Angeletics


Work in Progress

Rafael Capurro






CONTENTS

I. RESOURCES

II. EXCERPTS & INTERPRETATIONS

Part I
1. Greek, Egyptian, and  Hebrew traditions

Part II
2. Arabic, Assyrian and Persian  traditions
3. Latin tradition
4. Spanish and Latin American traditions

Part III
5. Far East tradition
6. African tradition
7. German tradition

Part IV
8. English tradition
9. French tradition

III. VARIA 1 /  VARIA 2


IV. DRAFTS

V. IMPACT

VI. BIBLIOGRAPHY





III. VARIA 1




Søren Kierkegaard: Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel 
Friedrich Nietzsche: Der Antichrist
Giorgio Agamben: The Kingdom and the Glory
Rafael Capurro: Engel, Menschen und Computer
Rafael Capurro: Was ist Metaphysik? Über das Verhältnis von Metaphysik und Wahnsinn
Rafael Capurro: Ein Grinsen ohne Katze
Rafael Capurro: Blockchain. Über die Kunst der Verkettung im digitalen Zeitalter
D. McElholm: Message
Die Emser-Depesche
Die Zimmermann-Depesche
Internet Troll
Fake News
Binder, Deuber-Mankowsky: Die Botschaft der Botschaften
Wikipedia: Diplomacy
Wikipedia: Blockchain
Wikipedia: Byzantinischer Fehler
Wikipedia: Taubenpost
Wikipedia: Kryptographie
Wikipedia: Flaschenpost
The Theophrastus Message in a Bottle Myth
Wikipedia: Brief
Wikipedia: Invektive
Wikipedia: Pasquill


REN KIRKEGAARD ÜBER DEN UNTERSCHIED ZWISCHEN EINEM GENIE UND EINEM APOSTEL

1847


S. Kierkegaard: Kleine Schriften, Gütersloh 1984, 115-134.

Was hat die in die Irre gehende [Die Abirrung ist übrigens nicht bloß die Heterodoxie, sondern auch der Hyper-Orthodoxie und überhaupt der Gedankenlosigkeit eigen.] Exegese und Spekulation getan, um das Christliche in Verwirrung zu bringen, oder wodurch hat sie das Christliche in Verwirrung gedacht? Ganz kurz und mit kategorischer Genauigkeit gesagt, das Folgende: sie hat den Bereich des Paradox-Religiösen zurückgeschoben in das Ästhetische und es dadurch erreicht, daß jeder christliche Terminus, welcher, wenn er in dem ihn eigenen Bereiche bleibt, eine qualitative Kategorie ist, nun, in einem reduzierten Zustande, brauchbare Dienste leistet als ein geistreicher Ausdruck, der da, ach, so allerlei bedeutet. Wenn nun der Bereich des Paradox-Religiösen abgeschafft oder in das Ästhetische zurückerklärt wird, so wird der Apostel nicht mehr und nicht weniger denn ein Genie, und dann – Christentum gute Nacht! Geistreich-Sein und Geist, Offenbarung und Ursprünglichkeit, Berufung durch Gott und Genialität, ein Apostel und ein Genie: dies alles kommt nun dahin, so ungefähr auf eines und das Gleiche hinauslaufen.

So hat eine in der Irre gehende Wissenschaft das Christentum in Verwirrung gebracht, und von der Wissenschaft her hat die Wirrnis wieder sich in den religiösen Vortrag eingeschlichen: daher hört man nicht selten Prediger, welche mit aller wissenschaftlichen Gutgläubigkeit bona fide das Christentum prostituieren. Sie sprechen in den höchsten Tönen davon, wie geistreich der Apostel Paulus ist, welchen Tiefsinn er hat, wie schön seine Gleichnisse sind usw. – lauter Ästhetik. Soll Paulus als Genie betrachtet werden, so sieht es für ihn schlimm aus; lediglich pastörliche Unwissenheit kann darauf verfallen, ihn ästhetisch anzupreisen, denn die pastörliche Unwissenheit besitzt keinen Maßstab, sondern denkt etwa so: wenn man nur etwas Gutes über Paulus sagt, so ist es schon gut. Solch eine gutmütige und wohlmeinende Gedankenlosigkeit hat darin ihren Grund, daß der Betreffende nicht unter der Zucht der qualitativen Dialektik aufgewachsen ist. Diese würde ihn lehren: einem Apostel ist nicht eben damit gedient, daß man von ihm etwas Gutes sagt, wenn es verkehrt ist, so daß er anerkannt und bewundert wird, weil er das sein soll, was das Gleichgiltige ist, und was er wesentlich nicht ist und darüber dann vergessen wird, was er ist. Solch eine gedankenlose Beredsamkeit könnte ebenso gut darauf verfallen, Paulus als Stilisten und Sprachkünstler zu preisen, oder noch besser (da Paulus bekanntlich zugleich ein Handwerk getrieben hat) zu behaupten, seine Arbeiten als Zeltmacher seien so vollendete Meisterwerke gewesen, daß kein Teppichwirker, weder zuvor noch darnach, etwas so Vollendetes habe schaffen können – denn wenn man nur etwas Gutes von Paulus sagt, so ist schon alles gut. Als Genie kann Paulus weder mit Plato noch mit Shakespeare den Vergleich aushalten; als Urheber schöner Gleichnisse kommt er ziemlich tief zu stehen; als Stilist hat er einen durchaus obskuren Namen – und als Teppichwirker: ja, ich muß gestehen, ich weiß nicht, wie hoch er in dieser Beziehung zu stellen sein mag. Sieh, er ist immer richtig, alberne Ernsthaftigkeit in Scherz zu verwandeln, alsdann kommt der Ernst, der Ernst, daß Paulus Apostel ist; und als Apostel wiederum hat er keine, schlechthin keine Gevatterschaft, weder mit Plato, noch mit Shakespeare, noch mit Stilisten, noch mit Teppichwirkern, es fehlt diesem sämtlich (da ist zwischen Plato und Shakespeare und Teppichmacher Hansen kein Unterschied) an irgend einer Vergleichbarkeit mit ihm.

Ein Genie und ein Apostel sind eben etwas qualitativ Verschiedenes, sie sind Bestimmungen, die eine jede in den ihr angemessenen qualitativen Bereich gehören, nämlich die eine in den der Immanenz, die andere in den der Transzendenz: 1) das Genie kann deshalb wohl etwas Neues zu bringen haben, aber dies schwindet in der allgemeinen Aneignung durch das Geschlecht wieder dahin, ebenso wie die durch das "Genie" gegebene Unterscheidung, sobald man an die Ewigkeit denk, dahinschwindet: der Apostel hat paradox etwas Neues zu bringen, dessen Neuzeit, eben weil sie wesentlich paradox ist und nicht etwa eine bloße Vorwegnahme im Hinblick auf die Weitere Entwicklung des Geschlechts darstellt, auf die Dauer bestehen bleibt, ganz ebenso wie ein Apostel in aller Ewigkeit ein Apostel bleibt und keine Immanenz der Ewigkeit ihn wesentlich auf die gleiche Stufe mit allen Menschen stellt, sintemal er von ihnen wesentlich paradox sich unterscheidet. 2) Der geniale Mensch ist, was er ist, aus sich selbst, d.h. kraft dessen, was er in sich selber ist; ein Apostel ist, was er ist, kraft seiner göttlichen Vollmacht. 3) Das Genie hat lediglich die Teleologie der Immanenz; der Apostel ist nach seiner teleologischen Stellung absolut paradox.

1. Alles Denken atmet in der Immanenz, wohingegen das Paradoxe und der Glaube einen eigenen qualitativen Bereich für sich bilden. Als eine immanente, in dem Verhältnis zwischen Mensch und Mensch als Mensch, ist jegliche Unterscheidung etwas, das für das wesentliche und ewige Denken im Schwinden ist, ein Moment, welches momentan freilich seine Giltigkeit hat, wesentlich aber in der wesentlichen Gleichheit der Ewigkeit dahinschwindet. Genie ist, wie das Wort selber sagt (ingenium heiß das Angeborene; Primitivität kommt von primus her; Originalität, von origo, bedeutet Ursprünglichkeit usw.), Unmittelbarkeit, Naturbestimmung; das Genie wird geboren. Schon längst ehe man die Frage aufwerfen kann, inwiefern das Genie nun seine seltene Begabung auf Gott zurückführen wird oder nicht, ist es Genie, und es bleibt Genie, auch wenn es das nicht tut. Mit dem Genie kann jene Veränderung vorgehen, daß es sich dazu entwickelt, das zu sein, was es der Möglichkeit nach (κατὰ δύναμιν) schon ist, daß es in den bewußten Besitz seiner selbst kommt. Sofern man zur Bezeichnung des Neuen, welches ein Genie zu bringen haben mag, den Ausdruck "Paradox" anwendet, wird dieser Ausdruck doch lediglich in unwesentlichem Sinne gebraucht für das transitorische Paradox, für die Vorwegnahme (Anticipation), die sich zu etwas Paradoxem verdichtet, welches doch wieder dahinschwindet. Ein Genie kann, wo es sich anfänglich mitteilt, paradox sein; je mehr aber der geniale Mensch zu sich selber kommt, um so mehr schwindet das Paradoxe dahin. Ein Genie kann seiner Zeit vielleicht um ein Jahrhundert voraus sein und daher wie ein Paradox dastehen, zuletzt aber wird das Geschlecht sich das einstmals Paradoxe dergestalt aneignen, daß es paradox nicht mehr ist.–

Anders mit einem Apostel. Das Wort selbst deutet auf den Unterschied hin. Ein Apostel wird nicht geboren; ein Apostel ist ein Mann, der von Gott berufen und bestellt, von ihm mit Auftrag entsandt wird. Ein Apostel entwickelt sich nicht auf die Art, daß es stufenweise das wird, was er der Möglichkeit nach (κατὰ δύναμιν) ist. Dem nämlich, daß man Apostel wird, geht keinerlei potentielle Möglichkeit vorher; wesentlich ist jeder Mensch gleich nahe daran, es zu werden. Ein Apostel kann nie auf die Art zu sich selbst kommen, daß er seiner apostolischen Berufung sich bewußt wird als eines Moments seiner eignen Lebensentwicklung. Die apostolische Berufung ist eine paradoxe Tatsache, welche so im ersten wie im letzten Augenblick seines Lebens paradox außerhalb seiner persönlichen Identität mit sich selber als der bestimmte Person, die er ist, dasteht. vielleicht ist jemand schon längst zu vernünftigen Jahren gekommen, da wird er zum Apostel berufen. Durch diese Berufung wird er kein besserer Kopf, bekommt er nicht ein Mehr an Phantasie, nicht größeren Scharfsinn usw., nimmermehr, er bleibt er selbst, wird aber kraft der paradoxen Tatsache von Gott mit bestimmtem Auftrag entsandt. Durch diese paradoxe Tatsache ist der Apostel in alle Ewigkeit auf paradoxe Weise zu etwas von allen andern Menschen Unterschiedenem gemacht worden. Das Neue, welches er zu verkündigen haben mag, ist das wesentliche Paradoxe. Wie lange es auch in der Welt verkündigt werde, es bleibt wesentlich gleich neu, gleich paradox, keine Immanenz vermag es sich anzueignen. Mit dem Apostel verhielt es sich ja nicht so wie mit dem durch Naturbegabung ausgezeichneten Menschen, welcher seinem Zeitalter vorausgewesen; vielleicht war der Apostel das, was wir einen einfältigen Menschen nennen, indes durch eine paradoxe Tatsache ward er dazu berufen, dies Neue zu verkündigen. Sogar, wenn das Denken vermeinte, es könne sich diese Lehre aneignen: die Art und Weise, auf welche die Lehre in die Welt gekommen, kann von ihm nicht angeeignet werden; denn das wesentliche Paradox ist eben der Einspruch wider die Immanenz. Aber die Art und Weise, auf welche solch eine Lehre in die Welt gekommen, ist eben das qualitative Entscheidende, was allein vermöge von Trug oder Gedankenlosigkeit übersehen werden kann.

2. Ein Genie wird rein ästhetisch gewürdigt, gemäß dem, als das sein Gehalt, seine Gewichtsfülle befunden wird; ein Apostel ist, was er ist, durch seine göttliche Vollmacht. Die göttliche Vollmacht ist das qualitative Entscheidende.Nicht dadurch etwa, daß ich den Inhalt der Lehre ästhetisch oder philosophisch würdige, soll oder dann ich zu dem Ergebnis gelangen: 'mithin ist der Mann, welcher diese Lehre vorgetragen, durch eine Offenbarung berufen worden, mithin ist er ein Apostel.' Das Verhältnis ist gerade umgekehrt: der durch eine Offenbarung Berufene, dem eine Lehre anvertraut wird, argumentiert von daher, daß es eine Offenbarung ist, von daher, daß er bevollmächtigt ist. Nicht deshalb soll ich auf Paulus hören, weil er geistreich oder ganz unvergleichlich geistreich ist; sondern ich soll mich unter Paulus beugen, weil er göttliche Vollmacht hat; und auf jeden Fall muß die Verantwortung des Paulus gerade die sein, daß er dafür Sorge trägt, diesen Eindruck zu erzeugen, mag sich nun jemand unter seiner Lehre beugen oder nicht. Paulus soll sich nicht darauf berufen, daß er geistreich ist, denn alsdann ist er ein Narr; er soll sich nicht auf eine rein ästhetische oder philosophische Erörterung des Lehrinhalt einlassen, denn alsdann ist er ein Wirrkopf. Nein, er soll sich berufen auf seine göttliche Vollmacht und soll eben vermöge ihrer, indem er zugleich willig Leben und alles opfert, allen naseweisen ästhetischen und philosophischen Zudringlichkeiten dem Inhalt der der Form der Lehre gegenüber einen Riegel vorschieben. Paulus soll nicht mittels der schönen Bilder sich und seine Lehre in Empfehlung bringen; umgekehrt müßte er wohl zu dem Einzelnen sagen: "möge das Gleichnis nun schön oder abgedroschen und veraltet sein, das gilt gleichviel, du sollst daran denken, daß das, was ich sage, mir durch eine Offenbarung anvertraut ist, so daß da Gott selber oder der Herr Jesus Christus der Sprechende ist, und du sollst dich nicht in Vermessenheit damit befassen, die Form zu kritisieren. Ich kann, ich darf dich nicht zwingen zu gehorchen, aber ich mache dich vermöge des Verhältnisses deines Gewissens zu Gott ewig verantwortlich für dein Verhalten dieser Lehre gegenüber, und ich tue dies dadurch, daß ich sie dir als mir offenbart verkündigt habe und also sie verkündigt habe mit göttlicher Vollmacht."

Die Vollmacht ist das qualitativ Entscheidende. Sogar innerhalb der Relativität des menschlichen Lebens, welche doch immanent im Schwinden ist, bestellt allda mit schon ein Unterschied zwischen einem Königsboten und den Worten eines Dichters oder Denkers? Und welches wäre der Unterschied, wenn nicht der, daß der Königsbote Vollmacht hat und deshalb alle kritische Nasenweisheit hinsichtlich Form und Inhalt sich verbittet. Der Dichter, der Denker hingegen hat selbst innerhalb dieser Relativität keinerlei Vollmacht, seine Aussage wird rein ästhetisch oder philosophisch gewürdigt, indem man Inhalt und Form beurteilt. Was aber wohl das Christliche von grund auf in Verwirrung gebracht, es sei denn dies, daß man zunächst im Zweifel so ziemlich ungewiß geworden ist, ob es einen Gott gibt, und alsdann, daß man im Aufruhr wider alle Autoritäten das Wesen und die Dialektik der Vollmacht vergessen hat. Ein König ist so greifbar sinnlich da, daß man sich mit den Sinnen davon überzeugen kann, und wo es nottut, vermag doch am Ende der König einen sinnenfällig davon zu überzeugen, daß er da ist. Auf solcher Art jedoch ist Gott nicht da. Dies hat der Zweifel benutzt, um Gott auf eine Stufe zu stellen mit allem, was keine Vollmacht hat, auf gleiche Stufe mit den Genies, den Dichtern und Denkern, deren Aussage schlecht und recht nur ästhetisch oder philosophisch gewürdigt wird; und wofern sie denn gut gesagt erscheint, sit der Mann ein Genie – und wofern sie denn ganz ungemein und außerordentlich gut gesagt erscheint, so ja, so ist es Gott, der es gesagt hat !!!

Auf diese Weise wird Gott eigentlich überseit gebracht. Was soll er machen? Hält Gott einen Menschen auf seinem Wege an, beruft er ihn durch eine Offenbarung und sendet ihn mit göttlicher Vollmacht ausgerüstet zu den übrigen Menschen, so sagen diese zu dem Boten: 'von wem kommst du her?' Er antwortet: 'von Gott.' Doch sieh, Gott kann seinem Abgesandten nun nicht auf so sinnenfällige Weise beistehen wie ein König das vermag, der ihm Soldaten oder Polizisten mitgibt, oder seinen Ring oder seine Handveste, die alle kennen, kurz, Gott kann den Menschen nicht damit zu Diensten zu sein, ihnen eine sinnliche Gewißheit zu verschaffen, daß ein Apostel ein Apostel ist – dies würde auch ein Unsinn sein. Sogar das Mirakel, falls der Apostel diese Gabe besitzt, gewährt keine sinnliche Gewißheit; denn das Mirakel ist des Glaubens Gegenstand. Überdies ist es auch ein Unsinn, sinnliche Gewißheit  davon zu erhalten, daß ein Apostel ein Apostel ist (Apostel ist die paradoxe Bestimmung eines geistigen Verhältnisses), ebenso wie es ein Unsinn ist, sinnliche Gewißheit davon zu erhalten, daß es einen Gott gibt, sintemal Gott Geist ist. Mithin, der Apostel sagt, daß er von Gott ist. Die andern erwidern: 'ja so,... so laß uns denn sehen, ob der Inhalt deiner Lehre göttlich ist, denn alsdann wollen wir sie annehmen und  ebenso auch, daß sie dir offenbart ist.' Auf diese Art sind sowohl Gott wie der Apostel zum Narren gehalten. Des Berufenen göttliche Vollmacht sollte gerade die verläßliche Schutzwehr sein, welche die Lehre sicherte und sie in jener dem Göttlichen gemäßen majestätischen Ferne Naseweisheiten gegenüber hielt, und stattdessen muß nun Inhalt und Form der Lehre sich rezensieren und beschnüffeln lassen – auf daß man auf diesem Wege dann zu einem Ergebnis darüber komme, ob es sich denn nun um eine Offenbarung handle oder nicht; und mittlerweile muß vermutlich der Apostel und Gott an der Pforte oder beim Pförtner warten, bis daß die Sache entscheiden worden ist von den Weisen in der Herrenstube. Der Berufene sollte gemäß dem von Gott Bestimmten seine göttliche Vollmacht brauchen, um alle Naseweisen fortzuscheuchen, die nicht gehorchen sondern räsonieren möchten; und stattdessen erreichen es die Menschen im Nu, daß der Apostel verwandelt wird in einen Examinanden, der sozusagen mit einer neuen Lehre zu Markte kommt.

Was also ist denn Vollmacht? Gründet sich Vollmacht im Tiefsinn der Lehre, in ihrer Vorzüglichkeit, dahin, daß sie geistreich ist? Nimmermehr. Wofern Vollmacht dergestalt, nur in höherer Potenz oder redupliziert, ein Zeichen dafür wäre, daß die Lehre tiefsinnig ist, so gibt es eben keine Vollmacht; denn wenn alsdann ein Lernender kraft seines Verstehens sich diese Lehre vollständig aneignete, so bliebe ja kein Unterschied zurück zwischen dem Lehrer und dem Lernenden. Vollmacht hingegen ist dasjenige, das unverändert bleibt, das nicht erworben werden kann, indem man die Lehre mit größter Vollständigkeit versteht.

Vollmacht ist eine spezifische Qualität, welche von einer andern Stelle hier hinzutritt und qualitativ sich gerade geltend macht, wenn der Inhalt der Aussage oder des Tuns ästhetisch in Indifferenz gesetzt ist. Laß uns ein Beispiel nehmen, das so einfach wie möglich ist, und in dem doch das Verhältnis sichtbar wird. Wenn der, welcher die Vollmacht, das zu sagen, besitzt, zu einem Menschen spricht: 'geh!' und wenn jemand, welcher die Vollmacht nicht besitzt, spricht: 'geh!', so ist ja die Aussage ('geh!') und ihr Inhalt identisch; ästhetisch geurteilt ist es, wenn man so will, gleich gut gesagt, aber die Vollmacht setzt den Unterschied. Wofern die Vollmacht nicht das schlechthin Andere (τὸ ἕτερον) ist, wofern sie irgendwie ein bloßes sich Steigern innerhalb der Identität hat bezeichnen sollen, gibt es eben keine Vollmacht. Wenn z.B. ein Lehrer begeistert sich bewußt ist, er selber drücke mit seinem Dasein, unter Aufopferung von allem die Lehre aus, die er verkündige und habe stets so getan, so kann dies Bewußtsein ihm alleredings einen festen und gewissen Geist geben, Vollmacht aber gibt es ihm nicht. Sein Leben als Beweis für die Richtigkeit der Lehre ist nicht das Andere (τὸ ἕτερον), sondern ist eine einfache Verdoppelung. Daß er der Lehre gemäß lebt, beweist nicht, daß sie richtig ist; vielmehr weil er selbst von der Richtigkeit der Lehre überzeugt ist, deshalb lebt er ihr gemäß. Dahingegen gilt: möge z.B. ein Polizeibeamter ein Schurke sein oder ein rechtschaffener Mann, sobald er von Amts wegen handelt, hat er Vollmacht.

Um diesem Begriff der Vollmacht, der für den paradox religiösen Bereich so wichtig ist, näher zu beleuchten, werde ich der Dialektik der Vollmacht nachgehen. Im Bereich der Immanenz läßt Vollmacht sich überhaupt nicht denken, oder sie läßt sich bloß denken als ein Dahinschwindendes.* Insofern also in den politischen, bürgerlichen, sozialen, häuslichen, disziplinären Verhältnissen von Vollmacht die Rede ist, oder Vollmacht ausgeübt wird, ist die Vollmacht doch lediglich ein transitorisches Moment, ein Dahinschwindendes, welches entweder bereits in der Zeitlichkeit späterhin schwindet, oder insofern schwindet, als die Zeitlichkeit und das Erdenleben selbst ein transitorisches Moment sind, das mit allen seinen Unterscheidungen schwindet. Man hat es so zu denken, daß jeglichem Verhältnis zwischen Mensch und Mensch als Mensch nichts anderes zu Grunde liegt als eine Verschiedenheit innerhalb der Identität der Immanenz, d.h. also, eine wesentliche Gleichheit. Es läßt sich nicht denken (alsdann würde alles Denken aufhören, wie es dies durchaus folgerichtig im Bereich des Paradox-Religiösen und des Glaubens auch tut), daß ein Mensch durch eine spezifische Qualität von allen andern verschieden ist. Alle menschlichen Unterscheidungen zwischen Mensch und Mensch als Mensch schwinden für das Denken dahin als Momente in der Totalität und Qualität der Identität. Im vergänglichen Augenblick muß ich so gut sein, die Unterscheidung zu respektieren und mich ihr zu fügen; es ist mir jedoch erlaubt, mich religiös zu erbauen an der Gewißheit, daß in der Ewigkeit die Unterscheidungen schwinden, sowohl die, welche mich auszeichnet, als auch die, welche mich niederdrückt. Als Untertan muß ich dem König Ehre und Gehorsam erweisen mit ungeteilter Seele, es ist mir jedoch erlaubt, mich religiös zu erbauen an dem Gedanken, daß ich, aufs Wesentliche gesehen, Bürger im Himmel bin, und daß ich, falls ich dort einmal mit der verstorbenen Majestät zusammentreffe, nicht verpflichtet sein werde zu untertänigem Gehorsam gegen ihn.

 *  Vielleicht geht es dem einen oder andern Leser hier ebenso wie mir; es kommt mir nämlich anläßlich dieser Erörterung der "Vollmacht" der Gedanke an die "erbaulichen Reden" von Magister Kierkegaard, in denen es durch eine wörtlich in einem jeden Vorwort sich wiederholende Erklärung so stark betont und hervorgehoben wird: "Dies sind nicht Predigten, weil der Verfasser keine Vollmacht hat zu predigen." Vollmacht ist die spezifische Qualität entweder einer apostolischen Berufung oder der Ordination. Predigen heißt eben Vollmacht brauchen; und daß dies predigen heißt, ist in unserer Zeit eben durchaus vergessen

So also steht es mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Mensch als Mensch. nachgehen.  Zwischen Gott und Mensch jedoch ist da ein ewiger wesentlicher qualitativer Unterschied, den niemand, es sei denn ein vermessenes Denken, dahinschwinden lassen kann in der Lästerung, Gott und Mensch unterscheiden sich freilich innerhalb des transitorischen Moments der Endlichkeit, so daß es hier in diesem Leben dem Menschen zieme, Gott Gehorsam und Anbetung zu geben, in der Ewigkeit aber werde der Unterschied dahinschwinden in der wesentlichen Gleichheit, so daß Gott und Mensch in der Ewigkeit Standesgenossen würden, ebenso wie König und Kammerdiener.

Zwischen Gott und Mensch ist und bleibt somit ein ewiger wesentlicher qualitativer Unterschied. Das paradox-religiöse Verhältnis (welches nun ganz gewiß sich nicht denken sondern lediglich glauben läßt) tritt also zutage, wenn Gott einen einzelnen Menschen dazu bestellt, göttliche Vollmacht zu haben, wohl zu merken in Bezug auf das von ihm von Gott Anvertraute. Der solchermaßen Berufene verhält sich nicht in dem Verhältnis: Mensch zu Mensch als Mensch; er verhält sich zu andern Menschen nicht in einer quantitativen Unterscheidung (als Genie, als ausgezeichnet Begabter usw.). Nein, er verhält sich paradox, sofern er eine spezifische Qualität hat, welche keine Immanenz in die Gleichheit der Ewigkeit zurückholen kann; denn sie ist wesentlich paradox und stets hinter dem Denken (nicht dem Denken voraus) wider das Denken. Hat solch ein Berufener gemäß göttlicher Weisung eine Lehre zu bringen, und hätte ein anderer Mensch, laß uns dies denken, so  werden diese beiden gleichwohl in alle Ewigkeit nicht gleich; denn der erste ist durch seine paradoxe spezifische Qualität (die göttliche Vollmacht) verschieden von jedem andern Menschen, und von derjenigen Bestimmung der menschlichen Gleichheit, die allen andern menschlichen Unterscheidungen zugrunde liegt. Die Bestimmung "ein Apostel" gehört in den Bereich der Transzendenz, in den paradox-religiösen Bereich, der durchaus folgerichtig auch einen qualitativ unterschiedenen Ausdruck für das Verhältnis andrer Menschen zu einem Apostel besitzt: sie verhalten sich nämlich glaubend zu ihm, wohingegen alles Denken in der Immanenz liegt und ist und atmet. glaube aber ist keine transitorische Bestimmung, ebensowenig  wie die paradoxe Qualifizierung eines Apostels etwas Transitorisches gewesen ist.

In dem Verhältnis zwischen Mensch und Mensch als Mensch ist mithin kein bestehender oder beständiger Unterschied in der Vollmacht denkbar gewesen, dieser ist ein verschwindender gewesen. Wir wollen indes für einen Augenblick stillehalten bei einigen Beispielen für solche sogenannten Vollmachtsverhältnisse zwischen Mensch und Mensch als Mensch, die unter der Bedingung der Zeitlichkeit wahr sind, um dadurch auf die wesentliche Betrachtung der Vollmacht aufmerksam zu werden. Ein König hat, so nimmt man ja an, Vollmacht. Woher kommt es nun, daß man sogar Anstoß nimmt, wenn ein König geistreich ist, Künstler ist usw.? Es kommt daher, daß man beim König den wesentlichen Ton auf die königliche Vollmacht legt und in Vergleich damit findet, allgemeinere Bestimmungen menschlicher Verschiedenheiten seien ein Dahinschwindendes, ein Unwesentliches, eine störende Zufälligkeit. Ein Regierungskollegium hat, so nimmt man an, Vollmacht in seinem bestimmten Bereich. Woher kommt es nun, daß man Anstoß nehmen würde, falls solch ein Kollegium in seinen Verordnungen z.B. wirklich geistreich, witzig, tiefsinnig wäre? Weil man durchaus mit Recht qualitativ die Vollmacht betont. Die Frage stellen, ob ein König Genie sei – um solchenfalls ihm zu gehorchen, ist im Grunde Majestätsverbrechen; denn in der Frage ist ein Zweifel enthalten hinsichtlich der Unterwerfung unter die Vollmacht. Einem Regierungskollegium gehorchen, wofern es Witze machen kann, heißt im Grunde, das Kollegium zum Narren halten. Seinen Vater ehren, weil er ein vortrefflicher Kopf ist, ist Pietätslosigkeit.

Indes, wie gesagt, im Verhältnis zwischen Mensch und Mensch als Mensch ist die Vollmacht, auch wenn sie besteht, ein Dahinschwindendes, und die Ewigkeit schafft alle irdische Vollmacht ab. Nunmehr aber der Bereich der Transzendenz. Laß uns das Beispiel so einfach, eben deshalb aber auch so augenfällig wie möglich nehmen. Wenn Christus spricht "es ist ein ewiges Leben" und wenn der Kandidat der Theologie Petersen spricht "es ist ein ewiges Leben", so sagen sie beide das Gleiche, es ist in der ersten Aussage nicht mehr als in der zweiten enthalten an Deduktion, Entwicklung, Tiefsinn, Gedankenfülle usw.; beide Aussagen sind, ästhetisch gewürdigt, gleich gut. Dennoch ist da wohl ein ewiger qualitativer Unterschied! Christus ist als Gott-Mensch im Besitz der Qualität der spezifischen Vollmacht; keine Ewigkeit kann hier eine Vermittlung zuwegebringen oder Christus auf gleiche Stufe stellen mit der wesentlichen menschlichen Gleichheit. Christus hat darum mit Vollmacht gelehrt. Die Frage stellen, ob Christus tiefsinnig sei, ist Lästerung und ein Versuch, Ihn (es sei nun bewußt oder unbewußt) mit Arglist zunichte zu machen; denn in der Frage ist enthalten ein Zweifel mit Bezug auf seine Vollmacht und zudem ein Versuch, Ihn mit naseweiser Zudringlichkeit zu beurteilen und zu zensieren, so als ob  Er im Examen wäre und geprüft werden sollte, wo doch vielmehr Er der ist, dem da gegeben ist alle Gewalt im Himmel und auf Erden.

Nur selten aber, überaus selten hört oder liest man heutzutage einen religiösen Vortrag, der völlig korrekt ist. Die besseren unter diesen Vorträgen pfuschen doch gerne ein bißchen in dem, was man den unbewußten oder wohlmeinenden Aufruhr nennen könnte, sofern sie das Christliche mit äußerster Kraft verteidigen und schützen – in verkehrten Kategorien. Laß mich ein Beispiel greifen, das erste beste. Ich suche es mir am liebsten bei einem Deutschen, so weiß ich doch, daß niemand, auch nicht der Dümmste oder der Böswilligste, darauf verfallen kann, daß ich, wo es sich um eine Sache handelt, die mir unendlich wichtig ist, dies hier bloß schreibe, um – den einen oder andern Geistlichen zur Zielscheibe zu machen. Bischof Sailer [vgl. Evangelisches aus Joh. Michael Sailers religiösen Schriften, von Dr. A. Gebaur, Stuttgart 1846, Pag. 34-35] predigt in einer Homilie, zum fünften Sonntag in den Fasten über den Text Joh. VIII 47-51. Er wählt die folgenden beiden Verse: "Wer von Gott ist, der höret Gottes Wort", und "Wer mein Wort hält, der siehet den Tod nicht"; und sagt darauf: "es sind in diesen Worten des Herrn drei große Räthsel" gelöset, mit denen sich die Menschen von jeher den Kopf so oder anders zerbrochen haben." Da haben wir's. Das Wort "Räthsel", und insbesondere "drei große Räthsel', und dann im nächsten Satz: "mit denen die Menschen den Kopf sich zerbrochen haben", lenkt den Gedanken sofort auf das Tiefsinnige in intellektueller Hinsicht, das Forschende, das Grübelnde, das Spekulative. Wieso aber vermag denn eine schlichte apodiktische Aussage tiefsinnig zu sein? Eine apodiktische Aussage, die das, was sie ist, allein dadurch ist, daß der und der sie getan; eine Aussage, die da schlechterdings nicht verstanden oder ergründet, sondern allein geglaubt werden will. Wie könnte ein Mensch darauf verfallen, daß ein Räthsel in der Richtung auf die grübelnde und forschende Tiefsinnigkeit gelöst worden sei durch eine geradezu geschehende Aussage, eine schlichte Behauptung (assertum)? Die Frage lautet ja: 'ist da ein ewiges Leben'? Die Antwort heißt: 'es ist ein ewiges Leben'. Wo in aller Welt steckt denn nun das Tiefsinnige? Wäre das Wort nicht gerade von Christus gesagt worden, und wäre Christus nicht der, welcher er nach seinem eigenen Worte ist, so müßte das Tiefsinnige doch gleichwohl zu finden sein, falls die Aussage an sich tiefsinnig ist. Laß uns den Kandidaten der Theologie Herrn Petersen vornehmen, der ja ebenfalls sagt: ' es ist ein ewiges Leben'. Wer in aller Welt würde den darauf verfallen, ihn auf Grund einer schlichten geraden Aussage des Tiefsinns zu zeihen? Das Entscheidende liegt also nicht in der Aussage, sondern darin, daß sie gesagt ist von Christus; das Verwirrende aber ist, daß man, um die Menschen gleichsam zum Glauben zu verlocken, in einem fort über das Tiefsinnige spricht. Ein christlicher Geistlicher muß, falls er korrekt sprechen will, ganz einfältig sagen: "wir haben Christi Wort, daß ein ewiges Leben ist, und damit ist die Sache entschieden. Hier ist nicht die Rede von Kopfzerbrechen oder Spekulieren, sondern davon, daß Christus selbst es gesagt hat, nicht in Eigenschaft eines tiefsinnigen Mannes, sondern kraft seiner göttlichen Vollmacht." Laß uns weiter gehen, laß uns annehmen, jemand glaube, daß da ein ewiges Leben ist, weil Christus es gesagt; dann geht er ja eben im Glauben allem jenem Tiefsinnigen und Grübelnden und Forschenden aus dem Wege, "somit man sich den Kopf zerbricht." Dahingegen laß uns jemand nehmen der sich tiefsinnig den Kopf zerbrechen will mit der Frage nach der Unsterblichkeit ob er nicht damit Recht haben wird, wenn er leugnet, daß die schlichte und gerade Aussage eine tiefsinnige Antwort auf die Frage ist? Was Plato über die Unsterblichkeit sagt, ist wirklich tiefsinnig, durch tieferes Nachdenken errungen; aber der arme Plato hat ja auch keine Vollmacht.

Die Sache ist mittlerweile die folgende. Zweifel und Unglaube, welche den Glauben entleeren, haben unter anderm auch die Menschen gelehrt, sich des Gehorchens, des sich Beugens unter Vollmacht zu schämen. Dieser aufrührerische Sinn schleicht sich auch in die Gedankengänge der Besseren ein, diesen selbst vielleicht unbewußt, und so hebt denn alles Geschraubte an, das im Grunde Verräterei ist, dies fortwährende Rede von dem Tiefen, und von dem so Wunderschönen, das man erahnen kann usw. Wollte man darum den christlich-religiösen Vortrag, wie man ihn jetzt zu hören und zu lesen bekommt, mit einem bestimmten Prädikat kennzeichnen, so müßte man sagen: er ist affektiert. Wenn man sonst von der Affektiertheit eines Predigers spricht, so denkt man vielleicht daran, daß er sich putzt und schminkt, oder daß er mit süßlich schmachtender Stimmte spricht, oder daß er auf echt nordische Weise das R rollen läßt und die Brauen runzelt, oder daß er sich mit Kraftstellungen und mit Erweckungssprüngen anstrengt usw. Dies alles jedoch ist nicht gar so wichtig, wiewohl es immerhin wünschenswert wäre, es käme nicht vor. Das Verderbliche aber ist, wenn der Gedankengang der gehaltenen Predigt affektiert ist, wenn die Rechtgläubigkeit der Predigt dadurch erreicht wird, daß man den Ton auf eine reinweg verkehrte Stelle legt, wenn im Grunde die Aufforderung, an Christus zu glauben, die Verkündigung des Glaubens an Ihn mit etwas begründet wird, das Gegenstand des Glaubens überhaupt nicht werden kann. Wollte ein Sohn sagen: "ich gehorche meinem Vater, nicht weil er mein Vater ist, sondern weil er Genie ist, oder weil seine Befehle immer so tiefsinnig und geistreich sind", so dürfte dieser Sohnesgehorsam affektiert sein. Der Sohn legt den Ton auf die durchaus verkehrte Stelle, er betont das Geistreiche, das Tiefsinnige an einem Befehl, wo ein Befehl gegen diese Bestimmung doch eben gleichgiltig ist. Der Sohn will gehorchen, weil der Vater tiefsinnig und geistreich ist; und in Kraft dessen kann er ihm gerade nicht gehorchen, denn sein kritisches Verhalten hinsichtlich der Frage, ob der Befehl nun tiefsinnig und geistreich sei, untergräbt den Gehorsam. Und ganz ebenso ist es auch Affektiertheit, wenn so viel davon die Rede ist, daß man sich das Christentum aneigne und Christus glaube vermöge dessen, die Lehre tiefsinnig, ach so tiefsinnig sei. Man lügt sich die Rechtgläubigkeit an, indem man auf etwas ganz und gar Verkehrtes den Ton legt. Die gesamte moderne Spekulation ist daher affektiert, weil sie auf der einen Seite den Gehorsam und auf der andern Seite die Vollmacht abgeschafft hat, und weil sie dann dem zum Trotz rechtgläubig sein möchte. Ein Geistlicher, der in seiner Predigt völlig korrekt ist, muß bei der Anführung eines Wortes von Christus folgendermaßen sprechen: "Dies Wort ist von dem, welchem seiner eignen Aussage zufolge, alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. Du mußt nun, mein Zuhörer, bei dir selbst überlegen, ob du dich unter diese Vollmacht beugen willst oder nicht, das Wort annehmen und glauben willst oder nicht. Willst du es aber nicht, so hüte dich um Gottes im Himmel willen, hinzugehen und das Wort anzunehmen, weil es geistreich oder tiefsinnig ist, oder ganz wunderschön, denn dies heißt Gottes spotten, es heißt Gott kritisieren wollen." Denn sobald die Vollmacht, die Dominante der spezifisch-paradoxen Vollmacht eingesetzt ist, sind alle Verhältnisse qualitativ verändert, und jene Art von Aneignung, die sonst zulässig und erwünscht ist, ist dann Vergehen und Vermessenheit.

Wie aber kann der Apostel nun beweisen, daß er die Vollmacht hat? Könnte er es sinnenfällig dartun, so wäre er gerade kein Apostel. Er hat keinen andern Beweis als seine eigne Aussage. Und gerade so muß es auch sein; denn sonst träte der Gläubige ja in ein unmittelbares Verhältnis zu ihm, nicht in ein paradoxes. In den transitorischen  Verhältnissen der Vollmacht zwischen Mensch und Mensch als Mensch wird die Vollmacht in der Regel sinnenfällig an der Macht zu erkennen sein. Ein Apostel hat keinen andern Beweis als seine eigene Aussage, und höchstens noch seine Bereitwilligkeit, um dieser Aussage willen mit Freuden alles zu erleiden. Seine Rede wird in dieser Hinsicht sich kurz fassen: "ich bin von Gott berufen, und ich mache euch für das, was ihr mit mir tut, ewig verantwortlich." Gesetzt nun (laß uns das annehmen) ein Apostel hätte wirklich in weltlichem Sinne die Gewalt, hätte großen Einfluß und mächtige Verbindungen, d.h. solche Kräfte, mit denen man über die Meinungen und Urteile der Menschen den Sieg gewinnt, – ja wo er von ihnen Gebrauch machte, hätte er seine Sache von vornherein verspielt. Indem er von dieser Gewalt Gebrauch machte, hätte er nämlich sein Bestreben in wesentlicher Gleichheit mit dem der andern Menschen bestimmt, und gleichwohl ist ein Apostel das, was er ist, allein vermöge seiner paradoxen Verschiedenartigkeit (Heterogenität), vermöge des Besitzes göttlicher Vollmacht, und diese kann er schlechthin unverändert besitzen, sogar wenn er, wie Paulus sagt, von den Menschen nicht höher geachtet wird als der Staub, auf den sie treten.
 

3. Das Genie hat lediglich die Teleologie der Immanenz; der Apostel ist nach seiner teleologischen Stellung absolut paradox.

Wenn anders man überhaupt von einem Menschen sagen kann, daß seine Stellung absolut teleologisch sei, dann von einem Apostel. Die ihm mitgeteilte Lehre ist nicht eine Aufgabe, die ihm zum Nachdenken gegeben ist, sie ist ihm nicht gegeben um seiner selbst willen, vielmehr er steht in Amt und Auftrag und hat die Lehre zu verkündigen und die Vollmacht zu brauchen. So wenig wie der mit einem Brief in die Stadt Entsandte mit des Briefes Inhalt zu schaffen hat, sondern allein mit seiner Überbringung, so wenig wie der Botschafter, der zu einem fremden Hofe entsandt wird, für den Inhalt der Botschaft eine Verantwortung trägt, sondern allein für die richtige Besorgung, ganz ebenso hat ein Apostel vor allem einzig und allein treu im Dienst zu sein, und der besteht darin, den Auftrag zu erfüllen. Darin besteht wesentlich das aufopfernde Leben eines Apostels, sogar wenn er nie verfolgt würde, darin also, daß er "wiewohl selber arm, andre reich machen soll" (1. Kor. 4.13), daß er sich niemals die Zeit oder die Ruhe oder die Sorglosigkeit nehmen darf, um in guten Tagen, in Muße (otium) selber reich zu werden in dem, mit dessen Verkündigung er andere reich macht. Er gleicht, ins Geistige übertragen, der geschäftigen Hausmutter, welche selber kaum Zeit zum Essen findet, weil sie das Essen zu bereiten hat für die vielen Münder. Und hätte er gleich in seinen Anfängen auf ein langes Leben hoffen dürfen, sein Leben wird doch bis zum letzten Tage unverändert bleiben, denn es werden immer wie er neue Menschen sich finden, denen er die Lehre zu verkündigen hat. Freilich ist eine Offenbarung jene paradoxe Tatsache, die über des Menschen Vernunft ist (Phil. 4.7); immerhin kann man doch so viel verstehen, was sich auch überall gezeigt hat, daß eine Offenbarung einen Menschen eben dazu beruft, hinzugehen in alle Welt, das Wort zu verkündigen, zu handeln und zu leiden, d.h. zu dem ununterbrochenen Leben und Wirken als Sendbote des Herren. [meine Hervorhebung, RC] Dahingegen ist es nahezu ein lästerlicher Gedanke, daß ein Mensch durch eine Offenbarung dazu berufen werden wollte, grausam dazusitzen in festem Hause, in einem geschäftigen literarischen Müßiggang (far niente), um augenblicksweise geistreich zu sein und alsdann Sammler und Herausgeber seiner geistreichen Ungewißheiten zu werden.

Anders mit einem Genie; es hat nur immanente Teleologie, es entwickelt sich aus sich selbst, und indem es sich entwickelt, spiegelt sich diese seine  Selbstentwicklung hin als sein Wirken. Es gewinnt also immerhin Bedeutung, vielleicht sogar große Bedeutung, es hat aber in Beziehung auf die Welt und andre keine Ihm selbst eigene teleologische Stellung. Ein Genie lebt in sich selbst; und es vermag humoristisch in einer zurückgezogenen Selbstzufriedenheit zu leben, ohne darum seine Begabung eitel zu nehmen, wenn es nur - ohne Rücksicht darauf, ob es andern Gewinn bringt oder nicht - sich selber mit Ernst und Fleiß entfaltet, indem es seinem eigenen Genius folgt. Das Genie ist deshalb keineswegs untätig, es tut vielleicht in sich selbst mehr Arbeit als zehn Geschäftsleute, es leistet vielleicht überaus viel, indes keine seiner Leistungen hat Ziel und Zweck (τέλος)  außerhalb seiner. Dies ist zur gleicher Zeit die Humanität und der Stolz des Genies: die Humanität besteht darin, daß es sich nicht teleologisch bestimmt in Beziehung auf irgend einen andern Menschen, so als ob es jemand gäbe, der seiner bedürfte; der Stolz besteht darin, daß es sich immanent zu sich selbst verhält. Es ist von der Nachtigall bescheiden, daß sie nicht verlangt, jemand solle ihr lauschen; es ist aber auch stolz von der Nachtigall, daß sie überhaupt nicht zu wissen begehrt, ob ihr da jemand lausche oder nicht. Die Dialektik des Genies wird besonders in unsrer Zeit anstößig sein, in welcher die Menge, die Masse, das Publikum und andre derartige Abstraktionen das Ziel haben, alles um und um zu kehren. Das hochgeehrte Publikum, die herrschsüchtige Menge, sie wollen, daß der geniale Mensch ausdrücke, er sei des Publikums oder der Menge wegen da; das hochgeehrte Publikum und die herrschsüchtige Menge sehen von der Dialektik des Genies nur die eine Seite, nehmen Anstoß an dem Stolz, und merken nicht, daß das Gleiche auch Demut und Bescheidenheit ist. Das hochgeehrte Publikum und die herrschsüchtige Menge würden daher auch eines Apostels Existenz eitel nehmen. Denn es ist freilich wahr, daß dieser schlechthin für andre da ist, um andrer willen ausgesandt ist; indes, nicht etwa die Menge und nicht die Menschen und nicht das hochgeehrte Publikum und noch nicht einmal das hochgeehrte gebildete Publikum, ist oder sind sein Herr, seine Herren - Gott ist sein Herr; und es ist dem Apostel eigen, daß er göttliche Vollmacht hat zu befehlen, sowohl der Menge wie dem Publikum.

Die humoristische Selbstzufriedenheit des Genies ist die Einheit von bescheidener Resignation der Welt gegenüber und dann stolzer Erhebung über die Welt; sie bedeutet, daß das Genie zugleich eine unnütze Überflüssigkeit und ein köstlicher Schmuck ist. Ist der geniale Mensch ein bildender Künstler, so bringt er sein Kunstwerk hervor, jedoch weder er noch sein Kunstwerk haben irgendwie Ziel oder Zweck (τέλος) außerhalb ihrer. Oder der geniale Mensch ist ein Schriftsteller, welcher jegliches teleologische Verhältnis zur Umwelt vernichtet und sich humoristisch als Lyriker bestimmt. Das Lyrische hat durchaus mit Recht keinerlei Ziel und Zweck (τέλος) außerhalb seiner; ob jemand eine einzige Seite Lyrik oder Folianten Lyrik schreibt, hat überhaupt nichts zu tun mit der Bestimmung der Richtung seiner Wirksamkeit. Der lyrische Schriftsteller kümmert sich allein um die Hervorbringung, genießt die Freude des Schaffens, oft vielleicht durch Schmerz und Anstrengung hindurch; nichts aber hat er zu schaffen mit andern, er schreibt nicht um zu, etwa um die Menschen aufzuklären, ihnen auf den rechten Weg zu helfen, etwas durchzusetzen, kurz er schreibt nicht, um zu. Und ebenso steht es mit jedem Genie. Kein Genie hat ein "um zu"; der Apostel hat absolut paradox ein "um zu".




FRIEDRICH NIETZSCHE: DER ANTICHRIST.

FLUCH AUF DAS CHRISTENTUM

1888-1889

33.

In der ganzen Psychologie des »Evangeliums« fehlt der Begriff Schuld und Strafe; insgleichen der Begriff Lohn. Die »Sünde«, jedwedes Distanz-Verhältniss zwischen Gott und Mensch ist abgeschafft, – e b e n  d a s  i s t  d i e  »f r o h e  B o t s c h a f t«. Die Seligkeit wird nicht verheißen, sie wird nicht an Bedingungen geknüpft: sie ist die e i n z i g e  Realität – der Rest ist Zeichen, um von ihr zu reden...

Die F o l g e eines solchen Zustandes projicirt sich in eine neue P r a k t i k, die eigentlich evangelische Praktik. Nicht ein »Glaube« unterscheidet den Christen: der Christ handelt, er unterscheidet sich durch ein a n d r e s  Handeln. Dass er Dem, der böse gegen ihn ist, weder durch Wort, noch im Herzen Widerstand leistet. Daß er keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen, zwischen Juden und Nicht-Juden macht (»der Nächste« eigentlich der Glaubensgenosse, der Jude). Dass er sich gegen Niemanden erzürnt, Niemanden geringschätzt. Dass er sich bei Gerichtshöfen weder sehn läßt, noch in Anspruch nehmen läßt (»nicht schwören«). Dass er sich unter keinen Umständen, auch nicht im Falle bewiesener Untreue des Weibes, von seinem Weibe scheidet. – Alles im Grunde Ein Satz, Alles Folgen Eines Instinkts. –

Das Leben des Erlösers war nichts Andres als d i e s e  Praktik, – sein Tod war auch nichts Andres... Er hatte keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nöthig, – nicht einmal das Gebet. Er hat mit der ganzen jüdischen Buß- und Versöhnungs-Lehre abgerechnet; er weiß, wie es allein die P r a k t i k  des Lebens ist, mit der man sich »göttlich«, »selig«, »evangelisch«, jederzeit ein »Kind Gottes« fühlt. N i c h t  »Buße«, n i c h t  »Gebet um Vergebung« sind Wege zu Gott: die e v a n g e l i s c h e   P r a k t i k  a l l e i n  führt zu Gott, sie eben ist »Gott«! – Was mit dem Evangelium a b g e t h a n  war, das war das Judenthum der Begriffe »Sünde«, »Vergebung der Sünde«, »Glaube«, »Erlösung durch den Glauben«, – die ganze jüdische K i r c h e n-Lehre war in der »frohen Botschaft« verneint.

Der tiefe Instinkt dafür, wie man leben müsse, um sich »im Himmel« zu fühlen, um sich »ewig« zu fühlen, während man sich bei jedem andern Verhalten durchaus nicht »im Himmel« fühlt: dies allein ist die psychologische Realität der »Erlösung«. – Ein neuer Wandel,
n i c h t ein neuer Glaube...

 

34.

Wenn ich irgend Etwas von diesem großen Symbolisten verstehe, so ist es Das, dass er nur i  n n e r e  Realitäten als Realitäten, als »Wahrheiten« nahm, – daß er den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen verstand. Der Begriff »des Menschen Sohn« ist nicht eine concrete Person, die in die Geschichte gehört, irgend etwas Einzelnes, Einmaliges, sondern eine »ewige« Thatsächlichkeit, ein von dem Zeitbegriff erlöstes  psychologisches Symbol. Dasselbe gilt noch einmal, und im höchsten Sinne, von dem Gott dieses typischen Symbolisten, vom »Reich Gottes«, vom »Himmelreich«, von der »Kindschaft Gottes«. Nichts ist unchristlicher als die k i r c h l i c h e n  C r u d i t ä t e n  von einem Gott als P e r s o n, von einem »Reich Gottes«, welches
k  o  m  m t, von einem »Himmelreich« j e n s e i t s, von einem »Sohne Gottes«, der z w e i t e n   P e r s o n  der Trinität. Dies Alles ist – man vergebe mir den Ausdruck – die F a u s t  auf dem Auge – oh auf was für einem Auge! – des Evangeliums: ein
w e l t h i s t o r i s c h e r  C y n i s m u s  in der Verhöhnung des Symbols... Aber es liegt ja auf der Hand, was mit dem Zeichen »Vater« und »Sohn« angerührt wird – nicht auf jeder Hand, ich gebe es zu: mit dem Wort »Sohn« ist der E i n t r i t t  in das Gesammt-Verklärungs-Gefühl aller Dinge (die Seligkeit) ausgedrückt, mit dem Wort »Vater« d i e s e s  G e f ü h l  s e l b s t, das Ewigkeits-, das Vollendungs-Gefühl. – Ich schäme mich daran zu erinnern, was die Kirche aus diesem Symbolismus gemacht hat: hat sie nicht eine Amphitryon-Geschichte an die Schwelle des christlichen »Glaubens« gesetzt? Und ein Dogma von der »unbefleckten Empfängniß« noch obendrein?... A b e r  d a m i t  h a t  s i e  d i e  E m p f ä n g n i s s  b e f l e c k t – –

Das »Himmelreich« ist ein Zustand des Herzens, – nicht Etwas, das »über der Erde« oder »nach dem Tode« kommt. Der ganze Begriff des natürlichen Todes fehlt im Evangelium: der Tod ist keine Brücke, kein Übergang, er f e h l t, weil einer ganz andern, bloß scheinbaren, bloß zu Zeichen nützlichen Welt zugehörig. Die »Todesstunde« ist k e i n  christlicher Begriff, – die »Stunde«, die Zeit, das physische Leben und seine Krisen sind gar nicht vorhanden für den Lehrer der »frohen Botschaft«... Das »Reich Gottes« ist nichts, das man erwartet; es hat  kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in »tausend Jahren«, – es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da...

 

35.

Dieser »frohe Botschafter« starb wie er lebte, wie er   l e h r t e – n i c h t  um »die Menschen zu erlösen«, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. D i e  P r a k t i k  ist es, welche er der Menschheit hinterliess: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn, – sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äußerste von ihm abwehrt, mehr noch, e r  f o r d e r t  e s  h e r a u s... Und er bittet, er leidet, er liebt mit Denen, in Denen, die ihm Böses thun...Die Worte zum S c h ä c h e r  am Kreuz enthalten das ganze Evangelium. "Das ist wahrlich ein g ö t t l i c h e r  Mensch gewesen, ein "Kind Gottes" sagt der Schächer. "Wenn du dies fühlst  – antwortet der Erlöser – s o  b i s t  d u  i m  P a r a d  i e s e, so bist auch du ein Kind Gottes..." N i c h t  sich wehren, n i c h t  zürnen, n i c h t  verantwortlich-machen ... Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, – ihn l i e b e n...

 

36.

– Erst wir, wir f r e i g e w o r d e n e n  Geister, haben die Voraussetzung dafür, Etwas zu verstehn, das neunzehn Jahrhunderte mißverstanden haben, – jene Instinkt und Leidenschaft gewordene Rechtschaffenheit, welche der »heiligen Lüge« noch mehr als jeder andern Lüge den Krieg macht... Man war unsäglich entfernt von unsrer liebevollen und vorsichtigen Neutralität, von jener Zucht des Geistes, mit der allein das Errathen so fremder, so zarter Dinge ermöglicht wird: man wollte jederzeit, mit einer unverschämten Selbstsucht, nur
s e i n e n  Vortheil darin, man hat aus dem Gegensatz zum Evangelium die K i r c h e  aufgebaut...

Wer nach Zeichen dafür suchte, daß hinter dem großen Welten-Spiel eine ironische Göttlichkeit die Finger handhabe, er fände keinen kleinen Anhalt in dem u n g e h e u r e n  F r a g e z e i c h e n, das Christentum heißt. Dass die Menschheit vor dem Gegensatz Dessen auf den Knien liegt, was der Ursprung, der Sinn, das R e c h t  des Evangeliums war, daß sie in dem Begriff »Kirche« gerade Das heilig gesprochen hat, was der »frohe Botschafter«  a l s  u n t e r  sich, als h i n t e r  sich empfand – man sucht vergebens nach einer größeren Form w e l t h i s t o r i s c h e r  I r o n ie – –

 

37.

– Unser Zeitalter ist stolz auf seinen historischen Sinn: wie hat es sich den Unsinn glaublich machen können, daß an dem Anfange des Christentums die g r o b e  W u n d e r t h ä t e r- u n d  E r l ö s er -F a b e l  steht, – und dass alles Spirituale und Symbolische erst eine spätere Entwicklung ist? Umgekehrt: die Geschichte des Christentums – und zwar vom Tode am Kreuze an – ist die Geschichte des schrittweise immer gröberen Mißverstehns eines u r s p r ü n g l i c h e n  Symbolismus. Mit jeder Ausbreitung des Christentums über noch breitere, noch rohere Massen, denen die Voraussetzungen immer mehr abgiengen, aus denen es geboren ist, wurde es nöthiger, das Christentum zu v u l g a r i s i r e n, zu b a r b a r i s i r e n, – es hat Lehren und Riten aller u n t e r i r d i s c h e n  Culte des imperium Romanum, es hat den Unsinn aller Arten kranker Vernunft in sich eingeschluckt. Das Schicksal des Christenthums liegt in der Nothwendigkeit, dass sein Glaube selbst so krank, so niedrig und vulgär werden mußte, als die Bedürfnisse krank, niedrig und vulgär waren, die mit ihm befriedigt werden sollten. Als Kirche summirt sich endlich die k r a n k e  B a r b a r e i  selbst zur Macht, – die Kirche, diese Todfeindschaftsform zu jeder Rechtschaffenheit, zu jeder Höhe der Seele, zu jeder Zucht des Geistes, zu jeder freimüthigen und gütigen Menschlichkeit. – Die christlichen – die v o r n e h m e n  Werthe: erst wir, wir f r e i g e w o r d n e n  Geister, haben diesen größten Werth-Gegensatz, den es giebt, wiederhergestellt! – –

 

38.

– Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer nicht. Es giebt Tage, wo mich ein Gefühl heimsucht, schwärzer als die schwärzeste Melancholie – die M e n s c h e n-V e r a c h t u n g. Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich verachte: der Mensch von Heute ist es, der Mensch, mit dem ich verhängnißvoll gleichzeitig bin. Der Mensch von Heute – ich ersticke an seinem unreinen Athem... Gegen das Vergangne bin ich, gleich allen Erkennenden, von einer großen Toleranz, das heisst
g r o ß m ü t  h i g e n  Selbstbezwingung: ich gehe durch die Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende, heiße sie nun »Christenthum«, »christlicher Glaube«, »christliche Kirche«, mit einer düsteren Vorsicht hindurch, – ich hüte mich, die Menschheit für ihre Geisteskrankheiten verantwortlich zu machen. Aber mein Gefühl schlägt um, bricht heraus, sobald ich in die neuere Zeit, in u n s r e  Zeit eintrete. Unsre Zeit ist w i s s e n d... Was ehemals bloß krank war, heute ward es unanständig, – es ist unanständig, heute Christ zu sein. U n d  h i e r 
b e g i n n t  mein Ekel. – Ich sehe mich um: es ist kein Wort von Dem mehr übrig geblieben, was ehemals »Wahrheit« hieß, wir halten es nicht mehr aus, wenn ein Priester das Wort »Wahrheit« auch nur in den Mund nimmt. Selbst bei dem bescheidensten Anspruch auf Rechtschaffenheit muß man heute wissen, dass ein Theologe, ein Priester, ein Papst mit jedem Satz, den er spricht, nicht nur irrt, sondern
l ü g t, – daß es ihm nicht mehr freisteht, aus »Unschuld«, aus »Unwissenheit« zu lügen. Auch der Priester weiß, so gut es Jedermann weiß, dass es keinen »Gott« mehr giebt, keinen »Sünder«, keinen »Erlöser«, – dass »freier Wille«, »sittliche Weltordnung« L ü g e n  sind: – der Ernst, die tiefe Selbstüberwindung des Geistes e r l a u b t  Niemandem mehr, hierüber n i c h t  zu wissen... Alle Begriffe der Kirche sind erkannt als das, was sie sind, als die bösartigste Falschmünzerei, die es giebt, zum Zweck, die Natur, die Natur-Werthe zu
e n t w e r t h  e n; der Priester selbst ist erkannt als Das, was er ist, als die gefährlichste Art Parasit, als die eigentliche Giftspinne des Lebens... Wir wissen, unser G e w i s s e n  weiß es heute –, w a s  überhaupt jene unheimlichen Erfindungen der Priester und der Kirche werth sind, w o z u  s i e  d i e n t e n, mit denen jener Zustand von Selbstschändung der Menschheit erreicht worden ist, der Ekel vor ihrem Anblick machen kann – die Begriffe »Jenseits«, »jüngstes Gericht«, »Unsterblichkeit der Seele«, die »Seele« selbst: es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge deren der Priester Herr wurde, Herr blieb... Jedermann weiss das:
u n d  t r o t z d e m   b l e i b t  A l l e s  b e i m  A l t e n. Wohin kam das letzte Gefühl von Anstand, von Achtung vor sich selbst, wenn unsre Staatsmänner sogar, eine sonst sehr unbefangne Art Mensch und Antichristen der That durch und durch, sich heute noch Christen nennen und zum Abendmahl gehn?... Ein junger Fürst an der Spitze seiner Regimenter, prachtvoll als Ausdruck der Selbstsucht und Selbstüberhebung seines Volks, – aber,ohne jede Scham, sich als Christen bekennend!... Wen verneint denn das Christentum? w a s  heisst es »Welt«? Dass man Soldat, daß man Richter, dass man Patriot ist; daß man sich wehrt; dass man auf seine Ehre hält; dssß man seinen Vortheil will; dass man s t o l z  ist... Jede Praktik jedes Augenblicks, jeder Instinkt, jede zur That werdende Wertschätzung ist heute antichristlich: was für eine M i s s g e b u r t  v o n  F a l s c h h e i t  muss der moderne Mensch sein, dass er sich trotzdem n i c h t 
s c h ä m t, Christ noch zu heissen! – – –


39.
 Ich kehre zurück, ich erzähle die e c h t e Geschichte des Christentums.  Das Wort schon "Christenthum" ist ein Missverständnis, im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. Das "Evangelium" s t a r b am Kreuz. Was von diesem Augenblick an "Evangelium" heisst, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt: eine "s c h l i m m e Botschaft", ein D y s a n g e l i u m. Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem "Glauben", etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus das Abzeichen des Christen sieht: bloß die christliche P r a k t ik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich... Heute noch ist ein s o l c h e s Leben möglich, für g e w i s s e Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein... N i c h t ein Glauben, sondern ein Thun, ein Viles-n i c h t-thun vor Allem, ein andres S e i n... Bewusstseins-Zustände, irgend ein Glauben, ein Für-wahr-halten zum Beispiel – jeder Psycholog weiss das – sind ja vollkommen gleichgültig und fünften Ranges gegen den Werth der Instinkte: strenger geredet, der ganze Begriff geistiger Ursächlichkeit ist falsch. Das Christ-sein, die Christlichkeit auf ein Für-wahr-halten, auf eine blosse Bewusstseins-Phänomenalität reduziren heisst die Christlichkeit negiren. I n  d e r   T h a t   g a b  k e i n e   C h r i s t e n. Der "Christ", das, was seit zwei Jahrtausenden Christ heisst, ist bloss ein psychologisches Selbst-Missverständnis. Genauer zugesehen, herrschten in ihm, trotz allem "Glauben", b l o s s  die Instinkte – und  w a s  f ü r  I n s t i n k t e! – Der "Glaube" war zu allen Zeiten, beispielsweise bei Luther, nur ein Mantel, ein Vorwand, ein  V o r h a n g, hinter dem die Instinkte ihr Spiel spielten –, eine kluge B l i n d h e i t   über die Herrschaft  g e w i s s e r  Instinkte... Der "Glaube" – ich nannte ihn schon die eigentliche christliche  K l u g h e i t , – man sprach immer vom "Glauben", man t h a t  immer nur vom Instinkte... In der Vorstellungs-Welt des Christen kommt Nichts vor, was die Wirklichkeit auch nur anrührte: dagegen erkannten wir im Instinkt-Hass g e g e n jede Wirklichkeit das treibende, das einzig treibende Element in der Wurzel des Christenthums. Was folgt daraus? Dass auch in psychologicis hier der Irrthum radikal, das heisst wesen-bestimmend, das heisst S u b s t a n z  ist. Ein Begriff hier weg, eine einzige Realität an dessen Stelle – und das ganze Christenum rollt in's Nichts! – Aus der Höhe gesehen, bleibt diese fremdartigste aller Thatsachen, eine durch Irrthümer nicht nur bedingte, sondern  n u r in leben- und herzvergiftenden Irrthümern erfinderische und selbst geniale Religion ein S c h a u s p i e l  f ü r   G ö t t e r, – für jene Gottheiten, welche zugleich Philosophen sind, und denen ich zum Beispiel bei jenen berühmten Zwiegesprächen auf Naxos begegnet bin. Im Augenblick, wo der  E k e l  von ihnen weicht (– u n d  von uns!)  werden sie dankbar für das Schauspiel des Christen: das erbärmlich kleine Gestirn, das Erde heisst, verdient vielleicht allein um d i e s e s  curiosen Falls willen einen göttlichen Blick, eine göttliche Antheilnahme... Unterschätzen wir nämlich cen Christen nicht: der Christ, falsch  b i s  z u r  U n s c h u l d, ist weit über dem Affen, –  in Hinsicht auf Christen wird eine bekannte Herkufnts-Theorie zur blossen Artigkeit...


Kritische Studienausgabe, München 1999, 6, 205-213 . [Meine Hervorhebungen, RC]

  

GIORGIO AGAMBEN: THE KINGDOM AND THE GLORY
 
 Stanford 2007

Orig. Il Regno e la Gloria. Per una genealogia teologica dell'economia e del governo (Homo Sacer II,2). 2007. (Transl. Lorenzo Chiesa with Matteo Mandarini)

Preface

§ 1 The Two Paradigms
§ 2 The Mystery of the Economy
§ 3 Being and Acting
§ 4The Kingdom and the Government
§ 5 The Providential Machine
§ 6 Angelology and Bureaucracy
§ 7 The Power and the Glory
§ 8 The Archaeology of Glory

Appendix: The Economy of the Moderns
1 The Law and the Miracle
2 The Invisible Hand


Preface

This study will inquire into the paths by which and  the reasons why power in the West has assumed the form of an oikonomia, that is, a government of men. It locates itself in the wake of Michel Foucault's investigations into the genealogy of governmentality, but, at the same time, it also aims to understand the internal reasons why they failed to be completed. Indeed, in this study, the shadow that the theoretical interrogation of the present casts onto the past reaches well beyond the chronological limits that Foucault assigned to his genealogy, to the early centuries of Christian theology, which witness the first, tentative elaboration of the Trinitarian doctrine in the form of an oikonomia. Locating government in its theological locus in the Trinitarian oikonomia does not mean to explain it by means of a hierarchy of causes, as if a more primordial genetic rank would necessarily pertain to theology. We show instead how the apparatus of the Trinitarian oikonomia may constitute a privileged laboratory for the observation of the working and articulation–both internal and external–of the governmental machine. For within this apparatus the elements–or the polarities–that articulate the machine appear, as it were, in their paradigmatic form.

In this way, the inquiry, into the genealogy–or, as one used to say, the nature–of power in the West, which I began more than ten years ago with Homo Sacer, reaches a point that is in every sense decisive. The double structure of the governmental machine, which is in State of Exception (2003) appeared in the correlation auctoritas and potestas, here takes the form of the articulation between Kingdom and Government and, ultimately, interrogates the very relation–which initially was not considered–between oikonomia and Glory, between power as government and effective management, and power as ceremonial and liturgical regality, two aspects that have been curiously neglected by both political philosophers and political scientists. Even historical studies of the insignia and liturgies of power, from Peterson to Kantorowicz, Alföldi to Schramm have failed to question this relation, precisely leaving aside a number of rather obvious questions: Why does power need glory? If it is essentially force and capacity for action and government, why does it assume the rigid, cumbersome and "glorious" form of ceremonies, acclamations, and protocols? What is the relation between economy and Glory?

Bringing these questions back to their theological dimension–questions that seem to find only trivial answers on the level of political and sociological investigations–has allowed us to catch a glimpse of something like the ultimate structure of the governmental machine of the West in the relation between oikonomia and Glory. The analysis of doxologies and liturgical acclamations, of ministries and angelical hymns turned out to be more useful for the understanding of the structures and functioning of power than many pseudo-philosophical analyses of popular sovereignty, the rule of law, or the communicative procedures that regulate the formation of public opinion and political will. Identifying in Glory the central mystery of power and interrogating the indissoluble nexus that links it to government and oikonomia will seem an obsolete operation to some. And yet, one of the results of our investigation has been precisely to note that the function of acclamations and Glory, in the modern form of public opinion and consensus, is still at the center of the political apparatuses of contemporary democracies. If the media are so important in modern democracies, this is the case not only because they enable the control and government of public opinion, but also and above all because they manage and dispense Glory, the acclamative and doxological power that seemed to have disappeared in modernity. The society of the spectacle–if we can call contemporaries democracies with this name–is, from this point of view, a society in which power in its "glorious" aspect becomes indiscernible from oikonomia and government. To have completely integrated Glory with oikonomia in the acclamative form of consensus is, more specifically, the specific task carried out by contemporary democracies and their government by consent, whose original paradigm is not written in Thucydides' Greek, but in the dry Latin of medieval and baroque treaties on the divine government of the world

However, this means that the center of the governmental machine is empty. The empty throne, the hetoimasia thou thronou that appears on the arches and apses of the Paleochristian and Byzantine basilicas is perhaps, in this sense the most significant symbol of power. Here the theme of the investigation touches its limit and, at the same time, its temporary conclusion. If, as has been suggested, there is in every book something like a hidden center, and the book was written to reach–or elude–it, then this center is to be found in the final paragraphs of Chapter 8. In opposition to the ingenuous emphasis on productivity and labor that has long prevented modernity from accessing politics as man's most proper dimension, politics is here returned to its central inoperativity, that is, to that operation that amounts to rendering inoperative all human and divine works. The empty throne, the symbol of Glory, is what we need to profane in order to make room, beyond it, for something that, for now, we can only evoke with the name of zoē aiōnios, eternal life. It is only when the fourth part of the investigatin, dedicated to the form-of-life and use, is completed, that the decisive meaning of inoperativity as a properly human and political praxis will be able to appear in its own light.

(p. xi-xiii)



RAFAEL CAPURRO: ENGEL, MENSCHEN UND COMPUTER

ZUR RELEVANZ DER THOMISTISCHEN ENGELLEHRE FÜR DIE PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE

1988

L'homme n'est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l'ange fait la bête. 
(Pascal, Pensées 572)   



EINLEITUNG

 

Was ist der Mensch? Ist nicht diese Frage, die das Thema des 1988 statt­gefundenen XVIII. Welt­kongresses für Philosophie war (1), heute mehr denn je ‚frag-würdiger’ geworden? Der Mensch sieht sich nicht mehr als Herr der Natur, sondern er hat die waghalsigen Träume der in der Aufk­lär­ung als Göttin gefeierten Vernunft ausgeträumt, und ist dabei, vielleicht zu spät, sich auf seine natürliche Herkunft zu besinnen. Gleich­zeitig aber, strebt er über sich hinaus. Dieses metaphysische Streben äußert sich auf der einen Seite etwa in Form einer wiedererwachten Naturmystik sowie, auf der anderen Seite, in Form technologischer Mythen. Hierzu gehört vor allem die Vorstel­lung von der künstlichen Schaffung menschenähnlicher Maschinen­wesen ("Androiden"), ein Topos, der in der Weltliteratur eine lange Ge­schichte aufweist (2). Diese Vorstellungen steigern sich, wie etwa bei Stanislaw Lem (3), zu gewaltigen Visionen über uns über­ragenden höheren Wesen, von denen der Mensch Auskunft über sich selbst erwartet. Die mythischen und religiösen Traditionen haben für solche Wesen einen Namen: Engel. Die abendländi­sche philosophische Tradition spricht von "daimones", "göttlichen Wesen" und "intelligentiae separatae".

Vor diesem Hintergrund mag es vielleicht weniger befremdend erscheinen, wenn nach der Relevanz der thomistischen Engellehre für die philoso­phische Anthropologie vor dem Hintergrund der Ansprüche der KI-Forschung bzw. der daraus entstehenden mythischen Visionen gefragt wird. Soweit ich feststellen konnte, ist der hier darzustellende Zusammen­hang in der philoso­phischen Literatur bisher nicht erörtert wor­den (4). Die Suggestibilität der thomistischen Engellehre, scheint mir, vor allem an­gesichts unserer jüngsten Träume bezüglich der Schaffung einer uns überra­gende "künstlichen Intelli­genz", be­sonders nahe­liegend. Was unter anderem dadurch zum Vorsch­ein kommt, ist die Suche nach der menschli­chen Selbst­be­stimmung zwischen Natur und Geist. Mit anderen Worten, der Mensch begehrt nicht nur, was unter ihm ist, sondern er strebt über sich hinaus. Ein solches doppeltes Begehren gehört auch für Thomas von Aquin zum Wesen des Menschen. Er schreibt:

"(...) quod in nobis non solum est delectatio, in qua communicamus cum brutis, sed etiam in qua communicamus cum angelis."

Die vorangestellte Frage lautet: "Gibt es Lust beim Begehren unseres Verstandes?" (ST  I, II, 31, art. 4) (5). Es scheint nicht der Fall zu sein, da die Lust ("delectatio") zu jenem gehört, was wir mit den Tieren teilen. Das ist aber nur bedingt richtig, da die Lust in uns, so Thomas wörtlich, "nicht nur bei dem ist, was wir mit den Tieren, sondern auch bei dem, was wir mit den Engeln teilen" (a.a.O.). Mit anderen Worten, die Lust gehört nicht nur zu unserem sinnlichen, sondern auch zu unserem intellektuellen Begehren ("appetitus sensitivus" bzw. "intellectivus"). Letztere heißt "gau­dium".

Diese Argumenta­tion zeigt den Rahmen in dem die anthropologische Frage erörtert wird: Der Mensch wird durch seine Zwischenstellung zwi­schen den Tieren und den Engeln bestimmt. Es ist diese Zwischenstellung, die der berühmten Definition von der "anima humana" als "forma corporis" und der damit zusammenhängenden Bestimmung als "animal rationale" ihren vollen Sinn gibt, indem nämlich der Mensch in bezug auf die Verfaßtheit seiner Seele ein Grenzwesen ist und zwar "in confinio corporalium et separatarum substantiarum". (De anim. 1, corp.). Im Gesamt­gefüge des Seins (theologisch: der Schöpfung) gehört der Mensch, was seiner intellektuellen Abzeichnung anbelangt, zur niedrigsten Stufe der geistigen Substanzen (theologisch: der Engel). Die "anima humana" ist "infima in ordine substan­tiarum spiritualium" (De spir. creat. 2, corp.). In seinem Kommentar zu den Senzenten des Petrus Lombardus schreibt Thomas: "Die Natur der Seele erreicht in ihrem Höhepunk die untere Grenze der Natur der Engel" ("Na­tura animae in sui supremo attingit infimum naturae angelicae" I Sent. d.3, q.4, a.1 ad 4.). Von dieser Grenzbestimmung aus erar­beitet Thomas die ontologische und erkenntnistheoretische Spezifizität des Men­schen. Die Engellehre des Doctor angelicus hat nicht nur eine in­haltliche, son­dern vielleicht primär eine methodologische Bedeutung im Hinblick auf die Bestimmung des Menschen. Sie bietet einen faßbareren Anhaltspunkt als die unsere Reflexion unendlich übersteigenden Natur Gottes.

Von wo aus bestimmt sich der Mensch heute? Ich möchte die leitende These dieser Untersuchungen folgendermaßen zusammenfassen: In unserer technologischen Zivilisation bestimmt sich nicht nur das menschliche Denken "sub specie machinae" (Baruzzi) (6), sondern der Mensch selbst "sub specie computationis" bzw. "intelligentiae artificialis". Der Computer füllt jene Stelle eines Signifikanten aus, die bisher durch die Vorstellung von Engeln besetzt war. Natür­lich geht es dabei (noch) nicht um die tatsächlich vor­handenen Computer, sondern um die Ansprüche der Künstliche-Intel­ligenz-Forschung (7), vor allem aber um die diese Ansprüche weckenden Träume (8).

Um uns der Bedeutung dieser sozusagen säkularisierten Vorstellung eines reinen Geistwesens bewußt zu werden, ist es zunächst notwendig in einem geschichtlichen Abriß sowohl die Beharrlichkeit als auch der Wandel der Engelsvorstellungen und ihre Wirkung auf­ die philosophis­che Bestimmung des Men­schen darzu­stellen (9). In einem zweiten Schritt, werde ich exemplarisch auf die thomis­tische Engellehre eingehen und ihre Suggesti­bilität für die philosophische Anthropolo­gie explizieren. Diese Erörterung soll Anlaß zu einem im Kantischen Sinne kritischenUmgang mit dem Computer-Mythos geben, wozu eine metaphysische, eine ethische und eine ästhetische Re­flexion gehören (10).


RAFAEL CAPURRO: WAS IST METAPHYSIK?

ÜBER DAS VERHÄLTNIS VON METAPHYSIK UND WAHNSINN

1994


3. Kants Metaphysikkritik in "Träume eines Geistersehers"


Man könnte Kants Metaphysikkritik im ersten Hauptstück der "Träume" als eine 'Dekonstruktion' im Sinne Derridas auf­fassen. Was wird dekonstruiert? Nicht mehr und nicht weni­ger als der Begriff des 'Geistes' bzw. der 'Geister­welt'. Wört­lich heißt der Titel: "Erster Teil, welcher dog­matisch ist. Erstes Hauptstück. Ein ver­wickelter metaphysi­scher Knoten, den man nach Be­lie­ben auf­lösen oder abhauen kann." Die De­konstruktion fängt mit folgendem Satz an: "Wenn alles dasje­nige, was von Geistern der Schulknabe herbetet, der große Haufe erzählt und der Philosoph demonstriert, zusam­mengenom­men wird, so scheint es keinen kleinen Teil von unserem Wissen auszumachen." (Träume, 319) Schulknaben, (dogmati­sche) Philosophen und "der große Haufe" gehören in ihrer Leicht- und Geistergläubigkeit zusammen. Vor der ontologi­schen Frage, ob es Geister gibt, stellt Kant die dekonstruk­tivistische bzw. hermeneutische Frage, was denn eigentlich mit 'Geist' gemeint ist ("ich weiß nicht einmal, was das Wort Geist bedeute." a.a.O.). 

Ein Geist, so lau­tet die gemei­ne Definition, ist "ein Wesen, welches Ver­nunft hat" (ibid.) Da Menschen Vernunft haben, folgt man daraus, daß wer Men­schen sieht, auch Geister sieht, wobei der Geist "nur ein Teil vom Menschen" ist (ibid.). Viele Begriffe entsprin­gen "durch geheime und dunkle Schlüs­se bei Gelegen­heit der Er­fahrungen und pflanzen sich naher auf andere fort, ohne Bewußtsein der Erfahrung selbst oder des Schlus­ses, welcher den Begriff über dieselbe er­richtet" (Träume 320, Fußnote). Sie heißen "erschliche­ne" Begrif­fe. Was sind also Geister? Ant­wort: einfache (nicht-materielle, nicht-raumfül­lende, nicht-teil­bare) Sub­stanzen, die Vernunft haben.

Beweise für die Existenz solcher Naturen findet man, so Kant, in den Schriften der "Philosophen", so z.B. bei Baum­gar­ten (Metaphysica § 742), der ausgehend vom Leibnizens 'Prinzip vom zureichenden Grunde' die Existenz einer "mate­ria cogi­tans" für unmöglich erklärt. Daraus folgt die Exi­stenz einer in­tel­lektuel­len Substanz ("spiritus") sowie eines "geistigen Leibes" ("corpus mysticum") oder einer Gemeinschaft der Geister. Kant zeigt sich dabei zwar kri­tisch aber nicht ablehnend, denn das, was als "un­denk­lich" erscheint - nämlich etwas, das wirken kann, ohne Raum zu er­füllen -, muß man nicht für "unmöglich" halten. Der Geist - eine weder be­weisbare noch widerleg­bare Hypothese

Die meta­physi­schen Fragen in bezug auf die Seele des Menschen häufen sich: Wo ist ihr Ort im Körper? Ist mein Ich in einem Ort? Wie soll man die gemeine Erfahrung interpre­tieren: - "Wo ich emfpinde, da bin ich" (Träume 324)? 
- Hat die Seele "ihren Sitz im Ge­hirne" (in einem "unbeschreiblich kleinen Platz") oder ist sie wie "die Spinne im Mittelpunkt ihres Gewebes"? (Träume 325) 
- Verschlucken wir dann im Kaffee Atome, "woraus Menschen­seelen werden sollen?!, wie eine Anek­dote über ein Gespräch zwischen Leibniz und einem Freund in einem Kaffee­haus im Leipzig berichtet? (Träume 327).[16] 

Eine traurige Konsequenz wäre, daß Philosophen kein 'café-au-lait' mit ir­gendjemandem trinken sollten! Wer träumt? Der Idealist oder der Mate­rialist? Kants Antwort, die aufgrund des Kon­textes der Schrift 'cum grano salis' ernstgenommen werden sollte, lautet: "Ich gestehe, daß ich sehr geneigt sei, das Dasein immate­riel­ler Naturen in der Welt zu behaupten und meine Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen." (Tr­äume 327) Diese positive Stellungnahme zugunsten der idea­listischen Meta­physik wird aber sofort gemildert: 

"Alsdann aber wie geheim­nisvoll wird nicht die Gemeinschaft zwischen einem Geiste und einem Körper!" Für dieses Gefühl des Nicht-Verstehens oder des Halb-Verstehens hat er eine skeptische Erklä­rung parat: "Aber wie natürlich ist nicht zugleich diese Unbegreiflich­keit, da unsere Begriffe äußerer Handlun­gen von denen der Materie abgezogen werden und jederzeit mit den Bedingungen des Druckes oder Stoßes verbunden sind, die hier  nicht stat­tfinden!" (Träume 327).

Mit anderen Worten, die idealistische Metaphy­sik ist sich nicht bewußt, daß sie das 'primum analogatum' unserer Begriffe, nämlich die empi­rische Erfah­rung, zu einem Abgeleiteten macht, und somit zu begriffli­chen Ungereimt­heiten und zu unhaltbaren  Existenz­po­stulaten geführt wird. Dennoch wird die metaphysische Frage nach dem Verhältnis zwischen der Seele und den "Ele­mentarteilchen der Materie" durch diese Dekonstruk­tion des metaphysichen Gei­stesbegriffs nicht weniger rätsel­haft. Mit einer bloßen materialistischen Um­kehrung wird sie nicht minder meta­physich-dogmatisch.

Die darauffolgende Kritik des Begriffs der 'Geisterwelt' bildet den Übergang zu Swedenborg und somit zum Vergleich zwischen der metaphysischen Begriffstäuschung und der Täu­schung durch eine krankhafte Einbildung. Sie führt  zur Grun­deinsicht der gesamten Abhand­lung, nämlich: "In gewis­ser Verwand­schaft mit den Träumern der Vernunft stehen die Träu­mer der Empfindung, und unter diese werden gemei­niglich diejenigen, so bisweilen mit Geistern zu tun haben, gezählt, und zwar aus dem nämli­chen Grunde wie die vorigen, weil sie etwas sehen, was kein anderer gesunder Mensch sieht, und ihre eigene Gemein­schaft mit Wesen haben, die sich niemand sonst offenbaren, so gute Sinne er auch haben mag." (Träume 342)

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RAFAEL CAPURRO: EIN GRINSEN OHNE KATZE

VON DER VERGLEICHBARKEIT ZWISCHEN KÜNSTLICHER INTELLIGENZ UND 'GENTRENNTER INTELLIGENZEN'


Zuerst erschienen in Zeitschrift für philosophische Forschung, 47 (1993) Januar/März, S. 93-102.


Einleitung 
 

Im folgenden werde ich einen Vergleich zwischen dem Begriff von 'getrennten Intelligenzen' (GI)  Kant spricht von "Vernunftideen von unsichtbaren Wesen" sowie von "geistigen Wesen" (1)   und dem von 'künstlicher Intelligenz' (KI) ziehen. 'Künstliche Intelligenz' soll im Sinne einer ästhetischen Idee aufgefaßt werden, mit dem Ziel die Vernunftidee der Vernunft neu zu beleben. Eine solche Idee ist Sache des 'Geistes' im Sinne von 'Witz' oder 'esprit' (2), wobei Kant zwischen einem "produktiven" oder "vergleichenden" und einem "vernünftelnden" Witz, ohne Geist und ohne Bezug zu Ideen, unterscheidet (Anthropologie § 51-52). Im Gegensatz zur Urteilskraft, geht es beim Witz um "Ähnlichkeiten unter ungleichartigen Dingen aufzufinden". "Er bedarf nachher", so Kant, "der Urteilskraft, um das Besondere unter dem Allgemeinen zu bestimmen, und das Denkungsvermögen zum Erkennen anzuwenden." (Anthropologie B 153). So stellt also ein produktiver Witz eine Hypothese dar. Er verspricht dem Verstand neue Einsichten. Dieser, seinerseits, wartet mit Spannung darauf.

Wie ernst der Topos der 'getrennten Intelligenz(en)' seitens der analytischen Philosophie (!) genommen wird, zeigte die Argumentation G.E.M. Anscombes beim Eröffnungsvortrag ("Man and Essences") des 18. Weltkongresses für Philosophie: Da unsere Fähigkeit mathematische Wesenheiten ("essences") hervorzubringen, von unserer Fähigkeit eine Sprache zu lernen abhängt und ein "regressus ad infinitum" zu vermeiden ist, müssen wir davon ausgehen, daß es "intelligence or intelligences" gibt, welche die Sprache geschaffen haben, ohne sie ihrerseits von einem anderen empfangen zu haben (3).

Ich gehe von der Hypothese einer 'witzigen' Vergleichbarkeit zwischen 'getrennten Intelligenzen' und 'künstlicher Intelligenz' aus. Ich werde diesen Vergleich am Beispiel der thomistischen Engellehre anstellen (4). Die plastische und malerische Versinnbildlichung der Idee von 'getrennten Intelligenzen' hat eine lange Tradition, wovon die Engeldarstellungen im Mittelalter einen Höhepunkt bilden (5). Ich wähle dieses Beispiel nicht nur wegen der vollendeten Begrifflichkeit, sondern auch, weil hier die durchaus ernste Dimension des Vergleichs zwischen 'getrennten Intelligenzen' und 'künstlicher Intelligenz' zum Ausdruck kommt: Die Bestimmung von getrennten Intelligenzen, und  so meine These  vergleichsweise auch die von 'künstlicher Intelligenz', dient der Selbstbestimmung des Menschen, hat also eine philosophisch-anthropologische Funktion. Bevor ich aber auf das mittelalterliche Beispiel zu sprechen komme, möchte ich auf die Bedeutung dieses Vergleichs in der heutigen 'künstlichen Intelligenz'-Debatte hinweisen.

I. Der Traum von künstlichen höheren Intelligenzen

Daß der Topos von künstlichen uns überragenden Intelligenzen häufig in der Science-Fiction-Literatur zu finden ist, bedarf keines näheren Nachweises. Daß aber dieses Motiv auch die wissenschaftliche Debatte um die 'künstliche Intelligenz' prägt, ist vermutlich nicht allgemein bekannt. Hierzu einige Beispiele. Hofstadter und Dennett kommentieren einen Text von Stanislaw Lem, in dem von einer "experimentellen Theogonie" die Rede ist, folgendermaßen:  
"Gibt es Strukturen, die an Komplexität ad infinitum zunehmen, oder erreichen alle Strukturen an irgendeinem Punkt einen stabilen Endzustand? Gibt es immer höhere Strukturebenen, die jeweils eigenen Erscheinungsgesetzen gehorchen  vergleichbar den Molekülen, Zellen, Organismen, Gesellschaften in unserem eigenen Universum?" (6)
Die dichterische Phantasie des polnischen Schriftstellers erreicht diesbezüglich einen Höhepunkt in seinem GOLEM-Roman (7).

In ihrer herausragenden Untersuchung über Geschichte und Perspektiven der 'künstlichen Intelligenz'  mit dem bezeichnenden Titel "Machines Who Think" , die mit einem "Das Schmieden der Götter" betitelten Kapitel abschließt, schreibt P. McCorduck:  

"Wir sind zweifellos dabei, Götter zu schmieden oder nachzubilden (...) Wieder einmal müssen wir eingestehen, daß diese Zukunftsbilder schließlich alle unsere eigenen sind und unserem Sehnen nach Transzendenz entspringen. Denn darauf kommt es an. Ob die künstliche Intelligenz wirklich der nächste große Evolutionsschritt ist, oder ob ich eben die Geschichte einer der verschrobensten menschlichen Narreteien, die es je gab, abgeschlossen habe, ist in gewissem Sinn nicht wichtig. Wir leben nur  wir überleben nur  als einzelne und als Spezies, wenn wir über uns selbst hinausgreifen. (...) Das Unterfangen ist gottähnlich, mit Recht für die erschreckend, die meinen, die Trennungslinie zwischen Men-schen und Göttern sollte undurchlässig sein." (8)
Diese evolutionstheoretische Vorstellung nimmt bei H. Moravec eine konkrete Gestalt an. Im nächsten Jahrhundert, das Moravec als "'postbiological' or even 'supernatural'" bezeichnet, werden Maschinen unsere Komplexität übersteigern, ja sie werden vielleicht alles transzendieren, was wir heute kennen ("they will mature... into something transcending everything we know") (9).

Unsere Thematik betrifft aber nicht nur die 'künstliche Intelligenz'-Träume (10), sondern auch den Kern der Diskussion bezüglich der Frage, ob Bewußtsein ein von den biologischen Bedingungen unabhängiges Phänomen ist. Die Diskussion um einen schwachen oder starken Funktionalismus zeigt, wie sehr die Interpretation einer Analogie die wissenschaftliche Forschung (irre-) leiten kann. Denn es ist am Beispiel des Computers, daß Hilary Putnam (11) die Differenz zwischen den funktionalen und den physikalischen Eigenschaften verdeutlicht und hieraus Schlüsse (!) bezüglich der Möglichkeit von elektro-nischen Neuronen zieht; und es ist ebenfalls aus der Deutung dieser Analogie, woraus Searle seine Argumente gegen den starken Funktionalismus schöpft. Inzwischen hat sich Putnam von seiner früheren These völlig distanziert. Seine Position gleicht der der hermeneutischen Kritik der 'künstlichen Intelligenz' von Terry Winograd und Fernando Flores. Hinter der dualistischen These des starken Funtionalismus verbirgt sich eine neue Alternative, auf die Oeser und Seitelberger hinweisen, nämlich: 

"ob man der Meinung ist, daß mentale Eigenschaften und damit auch das Bewußtsein prinzipiell auf verschiedene Weise realisiert werden können, wobei im Extremfall auch eine Realisierung ohne jeden materiellen Träger nicht ausgeschlossen wird (...) Diese (verschiedenen Formen des Dualismus, RC) reichen von einer dualen Einheit von materieller Struktur und spezifischer Funktion bis zu einem geradezu gespensterhaften Dualismus einer "reinen" Funktion, da man zumindest die logische Möglichkeit der Existenz von nichtphysikalischen Realisierungen funktional organisierter abstrakter Systeme annimmt (Putnam, Fodor)." (12)
Die Rede von einem "gespensterhaften" Dualismus scheint mir hier ganz im Sinne der jetzt zu erörternden mittelalterlichen Engellehre. An dieser Stelle erwähnen Oeser und Seitelberger folgende Passage von Lewis Carroll:  
"'So etwas!' dachte Alice; 'ich habe schon oft eine Katze ohne Grinsen gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist doch das Allerseltsamste, was ich je erlebt habe!'." (13)
Dieser 'Witz' steckt auch in Lyotards Frage "ob man ohne Körper denken kann" (14). Die Analogie zwischen 'künstlicher Intelligenz' und 'getrennten Intelligenzen' liegt auf der Hand. 

 
 II. Engellehre und Künstliche Intelligenz  

  
Hintergrund der mittelalterlichen Engellehre ist der Versuch die biblischen engelischen Gestalten den 'reinen Intelligenzen' oder 'intelligentiae separatae' anzugleichen, welche die griechische Philosophie im Sinne von Zweitursachen, die die Naturbewegungen in Gang hielten, annahm. Ich beschränke mich im Folgenden auf einige Aussagen in der "Summa theologica" des Thomas von Aquin (ST, I, 50-65, 106-114) (15). Allein vom Umfang her, stellen diese Quaestiones kein Nebenthema dar, sondern sie umrahmen und bestimmen die "quaestio de homine". Über die thomistische Engellehre bemerken J. Auer und J. Ratzinger:  

"bei Thomas und seinen Anhängern werden die Engel trotz ihrer Geschöpflichkeit, wegen ihrer reinen Geistigkeit, mehr in Analogie zum menschlichen Verständnis vom göttlichen Geist gesehen, bei Scotus und seinen Anhängern ist das Maßbild für das Verständnis der Engel mehr die menschliche Seele". (16)
K. Rahner hebt deutlich hervor, daß der Hinweis auf die "superiores substantiae intellectuales" in Kerntexten der thomistischen Erkenntnis- theorie "nicht von ungefähr" ist, sondern daß die menschliche Seele als Grenzidee gegenüber der intuitiven Intellektualität der Engel gegenübergestellt wird (17). Ich stelle den Vergleich zwischen 'getrennten Intelligenzen' und 'künstlicher Intelligenz' unter drei Perspektiven an, nämlich: Substantialität, Erkenntnis und Wille. 

1. Substantialität  

Thomas faßt die 'getrennte Intelligenz' als "creaturae incorporales et immateriales" oder "substantiae intellectuales" (ST I, 50 a. 2) auf. Die "substantiae separatae" haben eine "quidditas" oder "essentia" ("quod est") und etwas, woraus sie ist, ihr "esse" ("ex quo est"). Aber ihr Unterscheidungsmerkmal ist nicht die "materia", sondern die "potentia". Während die "materia" immer einer "forma" bedarf, gilt das nicht umgekehrt. Die "essentia" der einfachen Substanzen ist bloß die "forma" ("forma tantum"). Demnach gibt es kein "principium individuationis", wodurch Individuen innerhalb einer Art sich unterscheiden. Dennoch sind diese Substanzen nicht alle gleich, da sie nicht reine Aktualität sind, sondern ihr Sein ("esse") wird von Gott unterschiedlich aktualisiert. Indem Thomas "potentia" ohne "materia" denkt, bricht er mit dem Aristotelismus und folgt Avicenna. Daß es sich bei diesen Unterscheidungen um eine für die Auffassung des Menschen höchst relevante Reflexion handelt, zeigt sich darin, daß Thomas die "anima humana" als diejenige, welche "die letzte Stufe unter den intellektuellen Substanzen innehat" ("que tenet ultimum gradum in substantiis intellectualibus" (De ente et essentia, Kap. 4, 179) bestimmt. Die menschliche Seele bildet, mit anderen Worten, eine Ausnahme innerhalb der "intellektuellen Substanzen". Wir haben hier mit individualisierten Intellekten zu tun. Mit unserer Materialität geht auch die Zerstörbarkeit ("corruptio") ineins. Da aber einerseits die Seele als geistige Substanz unsterblich ist, sie aber andererseits eine Einheit mit dem Leib bildet, bleibt die "materia" nach dem Tode offen für eine neue "in-formatio" (18).  Aus dem inneren Zusammenhang zwischen Seele und Leib beim Menschen ergibt sich auch, daß die menschliche Seele nicht dieselbe Form ("species") wie die engelische hat bzw., daß die Engel keine "höheren Menschen" oder "niedrigen Götter" sind (ST I, 75, a. 7). Der Unterschied endlich/-unendlich bildet, so M. Müller, die notwendige Bedingung für die Existenz der Engel, während die Materialität die Wesensdiffererenz bzw. die hinreichende Bedingung endlicher Wesen darstellt (19).

Eine Analogie zu dieser materielosen Bestimmung der 'getrennten Intelligenzen' mit Hinblick auf die auf Hardware basierenden Systeme der 'künstlichen Intelligenz' ist nicht unmittelbar möglich, wohl aber die Vorstellung von der Differenz zwischen dem materiellen Substrat und den funktionalen Eigenschaften bzw. der Software. Hier stellt sich die oben angesprochene Frage, ob Intelligenz sich in einer anderen Weise vollziehen kann, als wie wir sie kennen. Karl Rahner bejaht die Möglichkeit eines umfassenderen und freieren Weltbezuges im Hinblick auf die 'getrennten Intelligenzen' (20) Im Falle der 'künstlichen Intelligenz' wären die anthropozentrischen Voraussetzungen unseres Weltbildes abermals in Frage gestellt, ohne die Garantie der Vermeidung unserer (eigenen) Selbstzerstörung. Hat uns die kaum vorstellbare Überschreitung unserer gewöhnlichen Zeit- und Raumvorstellungen durch die elektronische Datenverarbeitung uns bereits näher, ich meine analogisch näher, der bisherigen spekulativ-metaphysischen Vorstellungen von GI gebracht oder bedeutet sie eher eine Verfestigung und Steigerung des technokratischen Anthropozentrismus? (21)
 

2. Erkennntis

Im Unterschied zur göttlichen Erkenntnis ist der Intellekt der Engel nicht zugleich ihr Sein, sondern der "tätige Intellekt" ("intellectus agens") nimmt, je nach Rangordnung, am göttlichen Intellekt auf unterschiedliche Weise teil (ST I, 54). Engel bedürfen aber keines "intellectus possibilis", der erst durch eine "transeunte" bzw. über sich hinaus (zum sinnlichen Gegenstand hin) gehende Handlung aktualisiert wird. Menschliche Erkenntnis ist endlich, d.h. sie bedarf eines äußeren "Erleidens", sie ist teils sinnlich, teils intellektuell. In sich bleibend erkennen wiederum die Engel nicht alles schlechthin ("simpliciter"), sondern ihre Unendlichkeit ist immer perspektivisch ("secundum quid"). Die Engel erkennen reine intellektuelle Gegenstände ("intellegibilia"), indem sie ihnen gegenüber immer "in actu" sind. Im Hinblick auf unsere Analogie könnten wir sagen, daß das Wissen ihnen vorprogrammiert ist. Die Vielheit der Formen, die den Engeln innewohnen ("connaturales") ist wiederum Anzeichen eines Mangels an Universalität bzw. Anzeichen der Potentialität ihres geschaffenen Intellekts (ST I, 55). Der Begriff des "intellectus possibilis" dient Thomas als Grenzbegriff gegenüber der intuitiven intellektuellen Erkenntnis der Engel. Die engelische Mitteilung ist nicht äußerlich ("locutio exterior") sondern innerlich ("interior") (ST I, 107, a. 1). Wie erkennen Engel Einzeldinge ("singularia")? Thomas vergleicht (!) diese Erkenntnisweise mit der des Astrologen, der "per computationem", d.h. durch Berechnung der himmlischen Körper diese in ihrer Allgemeinheit vorhersagt. Engel können mit einer einzigen Verstandeskraft sowohl das Allgemeine als auch das sich daraus ableitende Viele ("ad plura se extendentem") erkennen. Sie bedürfen also eines Vorverständnisses, aber im Gegensatz zum menschlichen Intellekt vollzieht sich der Erkenntnisprozeß nicht im Sinne eines transeunten-empirischen "Zirkels". Dieses Vorverständnis ermöglicht die Erkenntnis des Zukünftigen sofern es sich aus Ursachen notwendig ergibt ("ex necessitate"). Die Grenze einer solchen Erkenntnis der 'getrennten Intelligenzen' ist damit vorgezeichnet: was darüber hinaus geht, fällt im Bereich der Vermutungen ("per conjecturam"), eine Kunst, die die Engel viel vollkommener beherrschen als die Menschen. Zufälliges ("casualia", "fortuita") bleibt ihnen aber völlig unbekannt (ST I, 57). 

Systeme der 'künstlichen Intelligenz' sind regelgeleitete Systeme, die die Diskursivität menschlichen Verstehens simulieren. Ob es eine Tages intelligente Computer geben kann, hängt, wie Dreyfus bemerkt, davon ab, ob

"die Forscher ihre Idee aufgeben, nach einer zeichenhaften Darstellung der Welt zu suchen, und sich statt dessen an einem neutralnetzartigen Modell des menschlichen Gehirns orientieren." (22)
Die Versuche die Welt durch Modelle formal zu 're-präsentieren' liefern uns die Karikatur einer situationsunabhängigen Erkenntnis. In Wahrheit sind Systeme der 'künstlichen Intelligenz' bisher nicht in der Lage ganzheitlich und situationsgerecht zu erkennen. Aber auch für eine unsere Intelligenz überragende 'künstliche Intelligenz' bliebe die Erkenntnis des Zukünftigen von der Kenntnis der Ursachen ("ex necessitate") abhängig. Jenseits davon liegt das 'Chaos' der "casualia" und "fortuita".
 

3. Wille 

Thomas unterscheidet (ST I, 59-60) zwischen der Hinwendung zum Guten bei Wesen ohne bzw. mit Erkenntnis, und bei den Letzteren, ob diese das Gute durch die Vermittlung des sinnlichen Strebens ("appetitus sensitivus") oder durch die Erkenntnis des Grundes des Guten stattfindet. Letzteres kann wiederum intuitiv ("intuitu"), wie bei den Engeln, oder diskursiv ("discurrendo"), wie bei den Menschen, sein. Zusammen mit ihrer Natur ist ihnen eine "natürliche Liebe" ("dilectio naturalis") vorgege-ben, so wie in unserer Natur zugle-ich der Wunsch nach Glückseligkeit eingepflanzt wurde. Sie ist in beiden Fällen das Prinzip der Liebeswahl ("dilectio electiva"), die nicht nur "nach" ("sicut") einem Ziel handelt sondern dieses Ziel auch will ("propter") (ST I, 60, a. 2). Da der Wille sich nach den Dingen selbst, und nicht nach ihrer Erkenntnis richtet, gibt es sowohl beim Menschen als auch beim Engel eine "dilectio naturalis" und eine "dilectio electiva". Bei den Engeln aber ist die "dilectio naturalis" das Prinzip der Liebeswahl. Dabei erlangen die Engel die Glück-seligkeit kraft der eigenen Natur, sofern es sich nicht um die übernatürliche Glückseligkeit handelt (ST I, 62, a. 1). Das menschliche Begehren nimmt demgegenüber eine Stellung zwischen Natur und Geist, denn der Mensch begehrt einerseits, was unter ihm ist, andererseits aber strebt er über sich hinaus. Auf die Frage, ob es Lust ("delectatio") beim Begehren unseres Verstandes gibt (ST I, II, 31, a. 4), antwortet Thomas, daß dies nicht der Fall zu sein scheint, da die Lust zu jenem gehört, was wir mit den Tieren teilen. Dieser naturalistischen Auffassung der Lust setzt er aber entgegen, daß die Lust in uns "nicht nur bei dem ist, was wir mit den Tieren, sondern auch bei dem, was wir mit den Engeln teilen" ("quod in nobis non solum est delectatio, in qua communicamus cum brutis, sed etiam in qua communicamus cum angelis"). Mit anderen Worten, die Lust gehört nicht nur zu unserem sinnlichen ("appetitus sensitivus") sondern auch zu unserem intellektuellen Begehren ("appetitus intellectivus"). Die Erfüllung dieses intellektuellen Begehrens nennt Thomas "Glückseligkeit" ("gaudium"). 

Hier klafft unsere Analogie sehr weit auseinander und sie kehrt sich in das Gegenteil um, zumal wenn wir an die mögliche Überwachungsfunktion von 'künstlicher Intelligenz' über soziale Systeme denken. Die in diesem Zusammenhang diskutierte Frage, ob Computersysteme moralisch verantwortlich sind oder gemacht werden können (23), verweist dennoch auf die Willensdimension, die sich aber hier in eine rein technokratische Verwaltungsfunktion auflöst. Lediglich im anfangs erwähnten literarischen GOLEM-Mythos erreicht der Wille bei einer uns überragenden 'künstlichen Intelligenz' kosmische und göttliche Dimensionen. Ein solcher Mythos stellt eine technische Versinnbildlichung der als göttlich gedachten 'getrennten Intelligenzen' dar.
 

III. Denken und Lachen 
  

Der hier angestellte Vergleich gibt Anlaß zu einem ernsten und zu einem heiteren Nachdenken. Der Mensch erfährt sich sowohl im metaphysischen als auch in technologischen Kategorien 'in confinio' als Grenzwesen zwischen Tier und 'getrennten Intelligenzen' bzw. 'künstlicher Intelligenz'. Insofern erweckt dieser Vergleich in einer neuen technologischen Weise die Vernunftidee der Vernunft. 'Künstliche Intelligenz' als ein Vehikel oder eine Hülle für eine moralisch-praktische Idee? Die Identität aber auch die Differenz zwischen dem philosophischen (und theologischen) und dem technologischen Diskurs liegen auf der Hand.  

Der Mensch kann seine eigene Entstehungsgeschichte in das unermeßliche Werden eines vermutlich sich selbst transzendierenden Kosmos einordnen. Es ist nämlich nicht ausgemacht, warum der Kosmos gerade zur Enstehung menschlicher Subjektivität gedient haben soll. Bei Wahrung der Differenz wäre auch dann die Frage zu stellen, welche Funk-tion der Mensch von seinem künstlich-künstlerischen Wesen her in diesem Prozeß erfüllen kann, ohne sich selbst aufzugeben. Denn der Mensch, indem er sich selbst nicht nur geistig, sondern auch biologisch zu verändern vermag ("homo faber sui ipsius"), kann seine Natürlichkeit weder völlig verlassen noch kann er sich als reine Künstlichkeit verwirklichen (24). Dieses Weder-Noch (weder Tier noch Engel) markiert seine Grenze. In der Gestalt technologischer Lust ("delectatio") begehrt unsere Vernunft zugleich eine beglückende aber letztlich nicht künstlich herstellbare Dimension ("gaudium"). Der Mensch bleibt aber, um mit Günter Anders zu sprechen, ethisch "antiquiert", wenn er die technische Veränderung seiner Seele und seines Leibes, mit dem diese Veränderung bedingenden Streben zur Grenzüberschreitung identifiziert (25). 'Künstliche Intelligenz' ist ein (!) Ausdruck dieses Strebens. Dabei kann aber der technologische Traum vielleicht etwas von der Lächerlichkeit seines Anspruches lernen. Und damit wären wir beim heiteren Nachdenken. 

Wie im Falle der trakischen Magd könnte das Lachen den entrückten Philosophen oder Träumer 'künstlicher Intelligenz' in die Lebenswelt der Leiblichkeit und Faktizität zurückrufen. Gegenüber dem Anspruch der reinen Theorie dürfte die Vorstellung von der Herstellung einer höheren Intelligenz ein noch größeres Gelächter bei der trakischen Magd hervorrufen, da der Sinnbezug der Intelligenz zur Lebenswelt eines endlichen Wesens sich in sein Gegenteil umzukehren vermag. Dies kann z.B. zu einer Abwertung menschlicher Unwissenheit - von der natürlichen Dummheit bis zur "docta ignorantia"- sowie letztlich, wie bei H. Moravec, zu einer Abwertung des Menschseins überhaupt führen. 'Künstliche Intelligenz': eine bisher unbekannte Form des Irrsinns? Der Verstand, der mit großer Erwartung auf die Erweiterung seines Horizontes gehofft hat, merkt das Spiel bzw. den Witz in bezug auf die grundverschiedene "paritas rationis": 'Getrennte Intelligenz' und 'künstliche Intelligenz' sollen unter dem einen Begriff von 'getrennten Intelligenzen' fallen, obwohl sie in Wahrheit zwei nicht miteinander vergleichbaren Ursacheprinzipien (Gott bzw. den Menschen) haben. Ein solcher Widersinn muß "ein lebhaftes, erschütterndes Lachen" erregen, denn das Lachen ist, so Kant, "ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts." (KdU § 54 Anm.)

Aber das ist ja gerade der Witz bei der Sache, für den Verstand Stoff zu geben, um seine Begriffe allgemein zu machen, ohne ihm aber die Arbeit der Einschränkung abzunehmen. Vielleicht ist dieses Lachen, wodurch das Gefühl der Lebenskraft durch die heilsame Bewegung des Zwerchfells gestärkt wird (Anthrop. § 76), eine heilsame Form über Möglichkeiten und Grenzen der 'künstlichen Intelligenz' nachzudenken. Unser Vergleich zeigt, daß die Träume der 'künstlichen Intelligenz' sehr viel von den Träumen eines Geistersehers haben - erläutert durch Träume der Technik. Pascal hat in einer wörtlich zu nehmenden "Pensée" die witzige Produktivität dieses Vergleichs folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:  

"L'homme n'est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut fairel'ange fait la bête." (meine Hervorhebungen) (26)


Anmerkungen 

1. I. Kant: Kritik der Urteilskraft (Frankfurt 1974) B 194; ders.: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Werke (Frankfurt 1977) 2. Der Kantverehrer Schopenhauer sieht in Kants "reiner Vernunft" eine Hypostasierung, so daß Kant bei der Rede von "vernünf- tigen Wesen" außer an den Menschen "ein wenig an die lieben Engel gedacht" haben mag. A. Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik. In Sämtliche Werke (Frankfurt 1986) Bd. 3, 657-58.

2. KdU, A 196; vgl. I. Kant: Anthropologie (Darmstadt 1975) B 161.

3. Vgl. v.Vf.: Der Kongreß. In Information Philosophie, Mai (1989) 2,  74-82.

4. Vgl. W. Stählin: Art. Engellehre. In Historisches Wörterbuch der Philosophie (Stuttgart 1972) Bd.2.  

5. Vgl. A. Rosenberg: Engel und Dämonen. Gestaltwandel eines Urbildes (München 1986).

6. D.R. Hofstadter, D.C. Dennett: Einsicht ins Ich (Stuttgart 1981) 306.

7. S. Lem: Also sprach GOLEM (Frankfurt 1984).

8. P. McCorduck: Machines Who Think (San Francisco 1979, dt. Denkmaschinen. Die Geschichte der künstlichen Intelligenz, Haar b. München 1987) 330-332.

9. H. Moravec: Mind Children. The Future of Robot and Human Intelligence (Harvard Univ. Press 1988) 1.

10. Vgl. J. Brun: Biographie de la machine. In Les Etudes Philosophiques (1985) 3-16; v. Vf.: La chose à penser. In: Ch. Grivel, Hrsg.: Appareils et machines à représentation. Mannheimer Analytika 8 (1988) 103-110.

11. H. Putnam: Repräsentation und Realität (Frankfurt: Suhrkamp 1991); T. Winograd, F. Flores: Erkenntnis Maschinen Verstehen (Berlin: Rotbuch Verlag 1989). Zu Winograd/Flores vgl. v.Vf.: Informatics and Hermeneutics. In C. Floyd et al.: Software Development and Reality Construction (Berlin 1992) 363-375.

12.E. Oeser, F. Seitelberger: Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis (Darmstadt 1988) 32. 

13. Lewis Carrol: Alice in Wunderland (Frankfurt 1973) 69.

14. J.-F. Lyotard: Ob man ohne Körper denken kann. In H.U. Gumbrecht, K.L. Pfeiffer, Hrsg.: Materialität der Kommunikation (Frankfurt 1988) 813-829.

15. Im Opusculum "De substantiis separatis" unterscheidet Thomas zwischen den "substantiae separatae" und den "animae orbium" und wendet sich gegen die Emanationstheorie des Avicebron. P. Duhem zieht das Fazit, daß in dieser Frage Thomas sich nie endgültig entscheiden konnte. P. Duhem: Le Système du Monde, Paris, o.D. Bd. 5, 558). Entscheidend bleibt aber dennoch für Thomas, daß alle "getrennten Substanzen" nicht durch ein Hervorgehen ("generatio", "mutatio"), sondern durch Schöpfung ("productio", "creatio") entstanden. Thomas betont, daß für Aristoteles die mythologische Auffassung der "intelligentiae separatae" als Götter den Sinn eines Durchgangs zum alleinigen höchsten Prinzip hat (In XII Metaph. 12, n. 2663).

16. J. Auer, J. Ratzinger: Kleine katholische Dogmatik (Regensburg: Pustet 1975) Bd. III, 417. Vgl. G. Tavard: Die Engel. In: M. Schmaux, A. Grillmeier, L. Scheffczyk, Hrsg.: Handbuch der Dogmengeschichte (Freiburg 1968) Bd. 2. In seiner "Michaelspredigt" entwickelt M. Luther eine streng an die Schrift orientierte Engellehre. Vgl. U. Mann: Das Wunderbare (Gütersloh: Mohn 1979). Durch den zweiten Schmalkal- dischen Artikel wurde die Engellehre innerhalb des Protestantismus unterbunden. R. Bultmann hielt im Rahmen seiner "Entmythologisierung" den "Geister- und Dämonenglaube" für erledigt und ersetzt durch die Kräfte der Natur. Zur gegenwärtigen evangelischen Engellehre vgl. C. Westermann: Gottes Engel brauchen keine Flügel (Stutt-gart: Kreiz 1980).

17. K. Rahner: Geist in Welt (München, 1957, 2.Aufl.) 256.

18. Vgl. P. Duhem, op.cit. 511 ff. Zur Ideengeschichte des Informationsbegriffs vgl. v.Vf.: Information (München 1976).

19. Max Müller: Sein und Geist (Freiburg/München 1981, 2.Aufl.) 196-198.

20. K. Rahner: Über Engel. In Schriften zur Theologie (Köln 1978) Bd. XIII.

21. Vgl. v.Vf.: Informationstechnik in der Lebenswelt. In P. Gorny, Hrsg.: Informatik und Schule 1991 (Berlin 1991) 16-26.

22. H.L. Dreyfus: Die Grenzen künstlicher Intelligenz (Königstein/Taunus 1985) 15.

23. Vgl. H. Lenk: Können Informationssysteme moralisch verantwortlich sein? In: Informatik-Spektrum 12 (1989) 248-255; vgl. auch v.Vf.: Die Verantwortbarkeit des Denkens. Künstliche Intelligenz aus ethischer Sicht. In: Forum für interdisziplinäre Forschung 1 (1988) 15-21.

24. Zur Frage der Selbstmanipulation  vgl. K. Rahner: Experiment Mensch. In: H. Rombach: Die Frage nach dem Menschen (Freiburg 1966) 45-69.

25. G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (München 1980).

26. B. Pascal: Pensées (Paris 1977) 572. Zu diesem Topos vgl. auch M. de Montaigne, Essais, III, 13.



RAFAEL CAPURRO: BLOCKCHAIN
Über die Kunst der Verkettung im digitalen Zeitalter
2019

Was ist eine Kette? Die Antwort auf diese Frage hängt vom geschichtlichen, kulturellen, politischen und technischen Kontext ab. Eine Kulturgeschichte der Kette muss noch geschrieben werden. Sie reicht bis in die Bronzezeit. Das Wort Kette stammt vom Lateinischen catena. Das Grimmsche Wörterbuch deutet es wie folgt: "allein gewöhnlich eiserne kette, als stärkeres seil zum binden, fesseln, befestigen", "kette in der uhr" "als schmuck, von gold, silber, auch als abzeichen einer würde, als geschenk", sowie bildlich "wie band" "doch als stärkerer ausdruck; sclaverei, gefangenschaft". Mit Bezug auf die letzte Bedeutung ein Klasssiker-Zitat: "Ein Volk, das unter dem unerträglichen Joch eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heißen wenn es endlich aufgährt und seine Ketten zerreißt? (J.W. von Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Am 12. August).

Der DUDEN definiert Kette als "aus ineinandergreifenden Einzelgliedern gefügtes [Metall]band", vielfach übertragen gebraucht im Sinne von "zusammenhängende Folge (von Ereignissen, gedanklichen Äußerungen u.a.)." In diesen Sinne hängen Ausdrücke wie "mit einer Kette binden", "an die Kette, in Ketten legen" und verketten "verknüpfen, verflechten" (15. Jh.) zusammen. Schmuckketten spielen eine bedeutende Rolle in vielen Kulturen.

Der Schmiedegott Hephaistos erfindet "Fesseln (desmous), unzerbrechlich, unlöslich", die er rund um das eigene Bett durch Hermes anbringen lässt: "[...] um die Pfosten [...] und auch vom Dachgebälk herunter baumelten viele, zart wie  Spinnengewebe, die keiner zu sehen vermöchte, selbst der seligen Götter". Dadurch ertappt er Aphrodite, seine Frau, und Ares in flagranti die dann gefesselt zum Gegenstand göttlicher Gelächter werden (Odyssee, VIII, 275-344). Aischylos schrieb eine folgenreiche Tragödie über den "gefesselten" Prometheus" (desmotes Prometheus). Dem "listenreichen" (polyphronos) Hephaistos entspricht der nicht weniger "wandlungsreiche" (polýtropon) Odysseus. Er lässt sich durch seine Gefährten, deren Ohren er mit Wachs bestrich, "an Händen und Füßen aufrecht an den Mast seines Schiffes fesseln (édesan)" um so den Gesang der Sirenen, "die alles wissen, was geschieht" zu hören. Als er sie "mit einem Wink mit den Brauen" bittet, ihn davon zu lösen, wird er durch Eurylochos und Perimedes noch stärker gefesselt und erst davon befreit (anélusan) als das Singen nicht mehr hörbar war (Odyssee, XII,  170-200). Die Griechen nannten métis diese Art von praktischer listenreicher Intelligenz, die sich von der sokratischen Kunst des Fragens (dialegesthai) unterscheidet.

Ketten dienen sowohl zur Fesselung von Mensch, Tier und Maschine als auch zum Transport- und Kommunikationsmittel. Als Antriebsmittel wurden über Jahrtausende Naturkräfte, Tiere und Menschen und seit der Industrialisierung die elektrische Kraft gebraucht. Die Eisenbahn sowie das Automobil und das Flugzeug sind Marksteine einer Kulturgeschichte der Kette.

Mit dem Computer findet eine neue Zäsur in der Kulturgeschichte der Kette statt. Die aus Zahlen gebildeten Ketten dienen zur Steuerung von materiellen und symbolischen Prozessen aller Art. Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts umspannt eine digitale Kette, das Internet, die ganze Welt und erstreckt sich allmählich über die Erde hinaus. Man kann die Informatik als Kunst des digitalen Verkettens auffassen. Die digitale Verkettung (ver)braucht zwar Energie, aber die Steuerung der Bewegungen findet anhand von digitalen Befehlsketten statt. Diese Steuerung betrifft auch die zwischenmenschliche Kommunikation. Wir leben in digitalen message societies. Fernkommunikation in alten Gesellschaften findet weitgehend auf der Basis von menschlichen Boten mit und ohne Unterstützung von Tieren und Maschinen sowie von verschiedenen kryptographischen Verfahren bei der materiellen Botschaftskodierung jenseits ihrer biologischen Kodierung im Gedächtnis des Boten statt. Die symbolische Kodifizierung durch die Schrift ist eine erste Form von Entanthropomorphisierung und Entbiologisierung der Kommunikationsmittel.

Das Medium des gesprochenen Wortes wird allmählich durch das geschriebene Texte und seit der Neuzeit durch den gedruckten Text verdrängt, was zu neuen gesellschaftlichen Fragen bezüglich der Deutungshoheit insbesondere seit der Reformation führt. Es stellt sich die Machtfrage bezüglich dessen, wer über die neuen Formen der Kommunikation verfügt und über sie bestimmt. Der geheime Austausch von Botschaften wurde zu einer entscheidenden politischen Macht, sowohl zur Sicherung als auch zum Sturz vom sozialen Systemen und deren symbolischen rechtlichen und moralischen Grundlagen. Die Kunst der digitalen Verkettung findet auch einen Niederschlag in Form von bibliothekarischen und archivarischen Systemen und Institutionen statt. Zu den Möglichkeiten der Steuerung von schriftlicher Kommunikation gehört nicht nur die Zensur, sondern auch das Machtmonopol des Staates. Ein Grundfrage bezüglich sozialer Kommunikation besteht darin, die Prozesse und die Botschaften so gut wie möglich sicher zu machen, das heißt, sie in ihrer Form zu schützen (safety) als auch den unerlaubten Einfluss von Dritten (security) abzuwehren. Die Verkettung anhand von digitalen Boten und Botschaften bildet das Rückgrat des gesellschaftlichen Lebens, das noch weitgehend rechtlich und politisch unreguliert verläuft mit gelungenen und krisenhaften Formen. Hier knüpft die blockchain Technologie an.

Was ist eine Kette? Diese Frage öffnet ein weites Feld an technischen, kulturgeschichtlichen, rechtlichen, ökonomischen und politischen Analysen, bei denen es sich lohnen würde, sie miteinander in Berührung zu bringen. Zuvor müsste aber eine philosophischen und begriffsgeschichtliche Analyse den Boden vorbereiten, auf dem eine solche Zusammenkunft von Perspektiven stattfinden kann, in deren Brechung etwas Neues sich zeigen könnte, das in der jeweiligen Sichtweise verdeckt bleibt.

Der Kettenbegriff spielt eine wichtige Rolle in Platons Höhlengleichnis, wo die Menschen in jener "unterirdischen Wohnstätte" "von Kind auf mit Fesseln (en desmois) an Schenkeln und Hals" fest gebannt sind: "Sie bleiben also immer an der nämlichen Stelle und sehen nur geradeaus vor sich hin, durch die Fesseln gehindert ihren Kopf herumzubewegen (periagein)" und nur in der Lage sind, die Schatten der Dingen zu sehen, die hinter ihren Rücken vorüber getragen werden (Rep. 514a-b). Die Gefangenen bleiben im Zustand der Torheit (aphrosyne), unfähig ihren Kopf zu bewegen, das heißt, zu reflektieren und einen anderen Gesichtspunkt einzunehmen, der ihnen erlauben würde, die Welt und sich selbst, mit anderen Augen wahrzunehmen anstatt den Zustand ihrer Verkettung als unveränderbar anzunehmen. 

Der hier verwendete Kettenbegriff steht zwar in einem Kontext von Kommunikation und Wahrheitssuche, wird aber als eine Technik verstanden, die beides verhindern soll. Ketten dienen dazu, Menschen und, wie im anschließenden Text ersichtlich, auch  Göttern in ihrer physischen und geistigen Bewegungsfreiheit zu hindern. Im Dialog "Ion" vergleicht Sokrates die Tätigkeit der Dichter und Rhapsoden, die sich als Dolmetscher der Götter verstehen, mit einer "ganzen langen Kette (hormathós makrós) von Eisenstücken und Ringen", deren Anziehungskraft aus dem Magneten herstammt: "Ebenso erfüllt die Muse selbst zunächst die Dichter mit göttlicher Begeisterung, und indem durch diese Begeisterten wieder andere in Begeisterung versetzt werden, bildet sich eine ganze Kette (hormathós). Denn alle guten epischen Dichter geben alle diese ihre schönen Dichtungen nicht als Werke überlegter Kunst (ouk emphrones) von sich, sondern sie tun dies in einem Zustande der Begeisterung und Verzückung." (Ion 533 d-e) Mit anderen Worten, eine solche magnetische Kette, die Begeisterung hervorrufen soll, funktioniert nur, wenn der eigene Verstand des Vermittlers ausgeschaltet ist. 

Arthur O. Lovejoy hat in seiner klassischen Studie "The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea" (Harvard University Press 1936/1964) die Bedeutung der Kette als leitende Idee in der Geschichte der abendländischen Metaphysik analysiert. Gegenüber der Vorstellung von Boten und Botschaften, die auf den Menschen von den Göttern her übermittelt werden und somit keine wechselseitigen Kommunikation erlauben, erhebt sich Sokrates mit seiner Kritik an die Vermittlungsrolle der Dichter. An ihrer Stellt tritt der horizontale Dialog auf der Basis von vernunftgeleiteten Fragen und Antworten. Beide Modelle sind Formen von Kommunikation, das heißt, Formen der symbolischen Verkettung und Vermittlung. Der sokratische Dialog bietet das Grundmuster einer von der Macht von religiösen und politischen Autoritäten befreiten Kommunikation wie sie in Europa viele Jahrhunderte später in der Aufklärung erträumt wurde und jetzt, im digitalen Zeitalter erneut überdacht werden sollte. Somit wären wir beinah bei den heutigen Ketten der digitalen Technologie, wobei hinzuweisen wäre, dass es vor allem seit dem 19. Jahrhundert eine Reihe von bahnbrechenden technischen Erfindungen gab, die im digitalen Zeitalter in Form von blockchaineinen Höhepunkt erreichen. Dass diese Technologie als ein hervorragendes kryptographisches Verfahren darstellt,   ist die Frage nach Sicherheit, Vertrauen und Verlässlichkeit in einer noch weitgehend deregulierten und digital-vernezten message society. In prä-digitalen Gesellschaften waren die Fragen nach der Verlässlichkeit von Boten sowie nach der unverfälschte Wiedergabe einer Botschaft andere. Die Verkettung als digitale Vernetzung löst im 20. Jahrhundert den Motor als energetische Leitmetapher der Moderne ab.

Die vielleicht stärkste Brechung des Kettenbegriffs zeigt sich darin, dass wenn von Ketten in Bezug auf den Menschen als ein freiheitliches Wesen sowohl in seiner Individualität als auch im Hinblick auf eine freiheitliche Demokratie, der Kettenbegriff negativ besetzt erscheint. Ketten, zumal in ihrer metallenen Materialität, deuten über Jahrtausende auf Ausbeutung, Gefangenschaft und Sklaverei hin. Das gilt vergleichsweise auch für die Ausbeutung anderer Lebewesen und der Natur überhaupt. Andererseits hat der Kettenbegriff eine positive Konnotation sofern damit den freien Zusammenhalt zwischen Menschen, das füreinander stehen und einander vertrauen so dass ein gutes menschliches Ganzes, welcher Art und für wie Lange auch immer zustande kommen kann, gemeint ist.

Menschliche Kommunikation basiert auf einer solchen freiwilligen Verkettung von Boten und Botschaften, die sich nicht nur in technischer und künstlerischer, sondern auch in der symbolischen Form von Gesetzen und Normen äußert, deren Auszeichnung darin besteht, dass sie veränderbar sind da sie auf das Spiel endlicher Freiheiten beruhen, die selbst das eigentliche Band sind. Vertrauen ist, so gesehen, eine Dimension zwischenmenschlichen Zusammenseins, das heißt, zwischen Wesen, die etwas von sich preisgeben oder zurückhalten können. Wer wir sind, und nicht was wir sind, hängt von diesem sozialen Spiel von Vertrauen und Misstrauen. Man kann zwar sagen, dass man Vertrauen in einer Technologie hat, aber das ist immer metaphorisch gemeint. Die blockchain Technologie kann diesem freien Spiel des Verbergens und Offenbarens dienen aber sie schwebt nicht im leeren Raum, sondern ihre Chancen und Gefahren müssen kontextuell analysiert und bewertet werden.

Wie wollen wir in Deutschland, in Europa und weltweit mit der Verkettung digitaler Botschaften umgehen? Welche ethischen und rechtlichen Bedingungen sind für einen sinnvollen Umgang mit dieser Technologie notwendig?  Es ist an der Zeit, über diese Sozialtechnologie in Rahmen eines interdisziplinären Dialogs nachzudenken, wozu dieser Beitrag einen Anstoß bieten soll.


Weiterführende Literatur

Die französischen Altphilologen Marcel Detienne und Jean-Pierre Vernant haben eine vorzügliche Studie über die metis geschrieben: "Les ruses de l'intelligence. La mètis des Grecs" (Paris 1974), deren Hauptinstrument verschiedene Arten von Fesseln waren.

Arthur O. Lovejoy hat in seiner klassischen Studie "The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea" (Harvard University Press 1936/1964) die Bedeutung der Kette als leitende Idee in der Geschichte der abendländischen Metaphysik analysiert.

R. Capurro & John Holgate (Eds.). Messages and Messengers - Angeletics as an Approach to the Phenomenology of Communication. München 2011.





D. McELHOLM: MESSAGE

GERT UEDING, Hg.: HISTORISCHES WÖRTERBUCH DER RHETORIK

Tübingen 2001, Bd. 5

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Die Emser Depesche im eigentlichen Sinn ist ein regierungsinternes Telegramm vom 13. Juli 1870. Darin unterrichtete der Diplomat Heinrich Abeken den Bundeskanzler Otto von Bismarck über die Vorgänge in Bad Ems. Der Bundeskanzler informierte daraufhin die Presse über die Vorgänge. Diese Pressemitteilung wird zuweilen mit der eigentlichen Depesche verwechselt, weil Bismarck großteils den Wortlaut der Depesche wiederverwendete. Die Pressemitteilung führte zu Empörung in Frankreich und gilt als ein Auslöser des Deutsch-Französischen Krieges.



Die Zimmermann-Depesche (auch Zimmermann-Telegramm) war ein verschlüsseltes Telegramm, das Arthur Zimmermann, der deutsche Staatssekretär des Auswärtigen Amts, am 19. Januar 1917 (andere Quellen sprechen vom 13. oder dem 16. Januar)[1] über die deutsche Botschaft in Washington, D.C. an den deutschen Gesandten in Mexiko sandte.

Ziel war ein Bündnis zwischen Deutschland und Mexiko für den Fall, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Neutralität aufgeben sollten. Der Regierung von Mexiko wurde in diesem Falle Unterstützung in Aussicht gestellt für die Rückgewinnung von Teilen des 1848 an die Vereinigten Staaten verlorengegangenen Territoriums. Im Vertrag von Guadalupe Hidalgo hatte Mexiko über 40 Prozent seines Territoriums (Kalifornien, Nevada, Arizona, Neu-Mexiko, Utah sowie Teile von Colorado und Wyoming) abtreten müssen.

Das Telegramm wurde vom britischen Marinegeheimdienst abgefangen und entziffert. Sein Chef, Captain R.N. William Reginald Hall, veranlasste die Regierung der Vereinigten Staaten, ihre Neutralitätspolitik zu überdenken, und trug entscheidend dazu bei, die Öffentlichkeit für den Kriegseintritt einzustimmen. Dabei hatte auch die Erinnerung an die mexikanische Unternehmung Napoleons III. 1861–1867 in Mexiko eine Rolle gespielt, der den Erzherzog Maximilian, einen Bruder des Kaisers von Österreich, 1864 zum Kaiser von Mexiko gemacht hatte (1864–1867), um auf dem amerikanischen Kontinent dem monarchischen Prinzip gegenüber der republikanischen Idee zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Briten hielten den Inhalt des Telegramms über einen Monat zurück; sie wussten nämlich nicht, wie sie den Inhalt der Öffentlichkeit mitteilen konnten, ohne dass die Deutschen entdeckten, dass ihr Code geknackt war. Man verkündete schließlich, das Telegramm sei durch eine Unvorsichtigkeit in der deutschen Botschaft in falsche Hände geraten.

Am 1. März 1917 gab der US-amerikanische Außenminister den Inhalt des Telegramms der Presse bekannt.[3]

Zu Beginn des Jahres hatte Präsident Woodrow Wilson gesagt, es wäre ein „Verbrechen gegen die Zivilisation“, seine Nation in den Krieg zu führen, doch am 2. April 1917 erklärte er vor dem Kongress:

„Ich stelle fest, dass die in jüngster Zeit von der deutschen kaiserlichen Regierung verfolgte Politik nichts Geringeres ist als ein Krieg gegen die Regierung und das Volk der Vereinigten Staaten. Der Kongress möge formell den uns aufgezwungenen Kriegszustand akzeptieren.“


WIKIPEDIA: INTERNET TROLL

In Internet slang, a troll (/troʊl, trɒl/) is a person who sows discord on the Internet by starting quarrels or upsetting people, by posting inflammatory, extraneous, or off-topic messages in an online community (such as a newsgroup, forum, chat room, or blog) with the intent of provoking readers into an emotional response or of otherwise disrupting normal, on-topic discussion, often for the troll's amusement.

This sense of both the noun and the verb "troll" is associated with Internet discourse, but also has been used more widely. Media attention in recent years has equated trolling with online harassment. For example, the mass media have used "troll" to mean "a person who defaces Internet tribute sites with the aim of causing grief to families". In addition, depictions of trolling have been included in popular fictional works, such as the HBO television program The Newsroom, in which a main character encounters harassing persons online and tries to infiltrate their circles by posting negative sexual comments
 

WIKIPEDIA: FAKE NEWS

 

Fake news is a type of yellow journalism or propaganda that consists of deliberate misinformation or hoaxes spread via traditional print and broadcast news media or online social media. Fake news is written and published with the intent to mislead in order to damage an agency, entity, or person, and/or gain financially or politically, often using sensationalist, dishonest, or outright fabricated headlines to increase readership, online sharing, and Internet click revenue. In the latter case, it is similar to sensational online "clickbait" headlines and relies on advertising revenue generated from this activity, regardless of the veracity of the published stories. Intentionally misleading and deceptive fake news is different from obvious satire or parody, which is intended to amuse rather than mislead its audience.

The relevance of fake news has increased in post-truth politics. For media outlets, the ability to attract viewers to their websites is necessary to general online advertising revenue. If publishing a story with false content attracts users, it may be worthy of producing in order to benefit advertisers and ratings. Easy access to online advertisement revenue, increased political polarization, and the popularity of social media, primarily the Facebook News Feed, have all been implicated in the spread of fake news, which has come to provide competition for legitimate news stories. Hostile government actors have also been implicated in generating and propagating fake news, particularly during elections.

Fake news also undermines serious media coverage and makes it more difficult for journalists to cover significant news stories. An analysis by Buzzfeed found that the top 20 fake news stories about the 2016 U.S. presidential election received more engagement on Facebook than the top 20 news stories on the election from 19 major media outlets: Anonymously-hosted fake news websites lacking known publishers have also been criticized, because they make it difficult to prosecute sources of fake news for libel.


Beate Binder and Astrid Deuber-Mankowsky (Hrsg.)

Die Botschaft der Botschaften

Lit, Berlin u.a., vol. 34. Berliner Blätter: Ethnographische und ethnologische Beiträge. 2004

 

Zusammenfassung

Der Philosoph Walter Benjamin hat die Aufgabe der Diplomaten einmal als »friedliche Beilegung von Konflikten, ohne Verträge und von Fall zu Fall« beschrieben, welche diese im Namen ihrer Staaten durchführen. Eine zarte Aufgabe, wie Benjamin sagt, die, wie der Umgang von Privatpersonen, eigene Formen und Tugenden hervorgebracht habe.
Der Wunsch, diese historisch gewachsenen Formen und Tugenden der diplomatischen Praxis zu erkunden und nach deren aktueller Umsetzung zu fragen, stand am Ausgangspunkt dieser Ausgabe der Berliner Blätter: Welche Rolle spielt die Diplomatie für das gegenwärtige politische Leben? Welche Repräsentationslogik schreibt sich darin ein und wie macht sich darin die symbolische Ordnung der Geschlechter geltend? Wie nutzt Berlin die Botschaften und deren Kulturprogramm, um sich ein Gesicht zu geben, und mit welchen kulturpolitischen Strategien präsentieren sich Staaten in Berlin?

Inhalt

Beate Binder und Astrid Deuber-Mankowsky
Die Botschaft der Botschaften. Einige einleitende Anmerkungen

Astrid Deuber-Mankowsky
Vertrauen erweckendes Grenzgängertum. Eine Annäherung an das neue Interesse an Diplomatie aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

Beate Binder
Strategien nationaler Selbstrepräsentation Eine Annäherung an die Botschaft der Botschaften aus stadtethnologischer Perspektive

Josefine Raasch und Wiebke Uhde
Die Botschaft der Zäune

Marlen Martin
Aspekte nationaler Selbstrepräsentation

Maria Morgen und Luise Nagel
Die mexikanische Botschaft - Eine Fassade als nationales Symbol

Eva Fuchslocher und Martina Gohlke
Sie sind ein Kulturvermittler, Herr Botschafter? Strategien nationaler Repräsentation

Nadine Skowronek
Wohin soll die Reise gehen? Zur Kulturarbeit des Goethe Instituts Inter Nationes

Laura Lehnen
Ein Besuch im italienischen Kulturinstitut

Snezana Nenny Sever
Madame l‘Ambassadrice: Alte Erwartung – neues Selbstverständnis? Zur Rolle der Botschaftsgattin im Diplomatischen Dienst

Mirco Kießig
Schwarze Kammern der Diplomatie. Über das Ver- und Entschlüsseln von Botschaften

Henriette E. Flader
Architektursymbolik und die Einheit des Nordens

Mirjam Dreger
Hinterm grünen Band. Die Nordischen Botschaften als Vorbild für eine Europäische Botschaft?

Antina Michels
Die universelle Botschaft in Brüssel: Repräsentation der Sans-Papiers

Ulf Matthiesen
Esskultur und regionale Entwicklung – unter besonderer Berücksichtigung von „Mark und Metropole“, Perspektivische Skizzen zu einem Forschungsfeld

 

Diplomacy is the art and practice of conducting negotiations between representatives of states. It usually refers to international diplomacy, the conduct of international relations[2] through the intercession of professional diplomats with regard to a full range of topical issues. International treaties are usually negotiated by diplomats prior to endorsement by national politicians. David Stevenson reports that by 1900 the term "diplomats" also covered diplomatic services, consular services and foreign ministry officials.[3]


Eine Blockchain (auch Block Chain, englisch für Blockkette) ist eine kontinuierlich erweiterbare Liste von Datensätzen, genannt „Blöcke“, welche mittels kryptographischer Verfahren miteinander verkettet sind. Jeder Block enthält dabei typischerweise einen kryptographisch sicheren Hash (Streuwert) des vorhergehenden Blocks, einen Zeitstempel und Transaktionsdaten.

Der Begriff Blockchain wird auch genutzt, wenn ein Buchführungssystem dezentral geführt wird und der jeweils richtige Zustand dokumentiert werden muss, weil viele Teilnehmer an der Buchführung beteiligt sind. Dieses Konzept wird als Distributed-Ledger-Technologie (dezentral geführte Kontobuchtechnologie) oder DLT bezeichnet. Was dokumentiert werden soll, ist für den Begriff der Blockchain unerheblich. Entscheidend ist, dass spätere Transaktionen auf früheren Transaktionen aufbauen und diese als richtig bestätigen, indem sie die Kenntnis der früheren Transaktionen beweisen. Damit wird es unmöglich gemacht, Existenz oder Inhalt der früheren Transaktionen zu manipulieren oder zu tilgen, ohne gleichzeitig alle späteren Transaktionen ebenfalls zu zerstören. Andere Teilnehmer der dezentralen Buchführung, die noch Kenntnis der späteren Transaktionen haben, würden eine manipulierte Kopie der Blockchain daran erkennen, dass sie Inkonsistenzen in den Berechnungen aufweist.

Das Verfahren der kryptografischen Verkettung in einem dezentral geführten Buchführungssystem ist die technische Basis für Kryptowährungen, kann aber darüber hinaus in verteilten Systemen zur Verbesserung bzw. Vereinfachung der Transaktionssicherheit im Vergleich zu zentralen Systemen beitragen. Eine der ersten Anwendungen von Blockchain ist die Kryptowährung Bitcoin.

Die Funktionsweise ähnelt dem Journal der Buchführung. Es wird daher auch als „Internet der Werte“ (Internet of value) bezeichnet. Eine Blockchain ermöglicht es, dass in einem dezentralen Netzwerk eine Einigkeit zwischen den Knoten erzielt werden kann. (Siehe auch: Byzantinischer Fehler.) [...]




Als byzantinische Fehler bezeichnet man in der Informationstechnik Fehler, bei denen sich ein System beliebig falsch verhalten kann. Beispielsweise schickt ein Server gelegentlich falsche Antworten und erreicht gelegentlich falsche Systemzustände. Ein byzantinischer Fehler beschreibt im Allgemeinen ein schwer zu erfassendes Fehlermodell.

In Mehrprozessor-Systemen bezeichnet der byzantinische Fehler eine Fehlerklasse. Falls eine Komponente an verschiedene Prozessoren unterschiedliche (protokollkonforme) Ergebnisse liefert, spricht man von einem byzantinischen Fehler. Bei der Planung wird davon ausgegangen, dass {x}Prozessoren bösartig arbeiten und das System maximal stören wollen.

Herkunft der Bezeichnung

Das Adjektiv byzantinisch bezieht sich auf das Problem der byzantinischen Generäle. Bei der Eroberung von Konstantinopel im Jahre 1453 hatten einer Legende nach osmanische Generäle ein Kommunikationsproblem. Wegen der starken Befestigung Konstantinopels war es notwendig, dass die Generäle mit ihren Truppen die Stadt gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen angriffen. Die Generäle konnten über Boten miteinander kommunizieren. Allerdings intrigierten einige der Generäle gegen andere. Ihr Ziel war es, ihre Konkurrenten beim Sultan in Misskredit zu bringen – beispielsweise dadurch, dass sie die anderen durch geschickt gestreute Fehlinformationen zu einem verfrühten Angriff treiben wollten. Keiner der Generäle wusste nun, welche Information authentisch war und wem sie vertrauen konnten.

Es geht also um ein Problem der Übereinkunft, welches darin besteht, dass die Heerführer einstimmig beschließen müssen, ob sie angreifen oder nicht. Kompliziert wird das Problem durch die räumliche Trennung der Befehlshaber; sie müssen also Boten hin- und herschicken. Außerdem kommt die Möglichkeit hinzu, dass sich unter den Generälen Verräter befinden können, die an die anderen Generäle absichtlich irreführende Informationen schicken können.

Mathematisch zeigte sich, dass die loyalen Generäle unter diesen Voraussetzungen nur dann eine Einigungschance haben, wenn der Anteil der Intriganten kleiner als ein Drittel ist. Somit gab es insbesondere bei drei Generälen, von denen einer ein Intrigant ist, keine Lösung – jedenfalls nicht mit Hilfe klassischer Kommunikationsmethoden wie Boten. [...]


WIKIPEDIA: TAUBENPOST

Siehe auch: Brieftaube

Bei der Taubenpost (auch Brieftaubenpost) befördern Brieftauben schriftliche Mitteilungen. Diese Art der Briefbeförderung war bereits in der Antike weit verbreitet. In der Neuzeit fand sie zunächst nur für militärische Zwecke Verwendung. Im 19. Jahrhundert wurden jedoch immer mehr Brieftaubenlinien für zivile Zwecke eingerichtet. Es kam mancherorts sogar zur Ausgabe eigener Taubenpostbriefmarken. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Taubenpost fast völlig von modernen Telekommunikationsmitteln verdrängt.

In der Kunst wurde das Motiv der Taubenpost vor allem zur Zeit ihrer größten Verbreitung im 19. Jahrhundert aufgegriffen, auf Briefmarken bildet sie heute noch ein beliebtes Motiv. Die Taubenpost selbst gilt jedoch unter Philatelisten nur als ein kleines Randgebiet. Nur wenige Briefe und Belegstücke der Taubenpost sind erhalten geblieben.

Taubenpost im Altertum

Die Taubenpost ist die älteste Form der Flugpost. Bereits im Altertum erkannten die Menschen die besondere Fähigkeit von Tauben, mühelos aus größter Entfernung zu ihren Nistplätzen zurückzukehren. Dies erlaubt den Tauben in einem sehr großen Gebiet nach geeigneter Nahrung zu suchen. Um 5000 v. Chr. begann der Mensch mit der Domestikation der Taube. Durch verschiedenste Zuchtmethoden wurde es schließlich möglich, Tauben als Überbringer von Nachrichten einzusetzen, und sie gewannen immer mehr an wirtschaftlicher, militärischer und politischer Bedeutung.

Die ersten größeren Versuche zur Domestikation der Taube unternahmen die SumererSargon von Akkad ließ alle seine Boten in Mesopotamien mit Tauben ausstatten, die im Falle eines Angriffs freigelassen werden sollten. Dies gewährleistete, dass der Herrscher schnell von einem Vorfall in Kenntnis gesetzt wurde.

Auch im Alten Ägypten wurden Tauben zur schnellen Nachrichtenübermittlung eingesetzt. Freigelassene Tauben verkündeten beispielsweise die Kunde von der Krönung des Pharaos Ramses II. im Jahre 1279 v. Chr. Die oft in der postgeschichtlichen Literatur behauptete Verwendung von Tauben zur Briefbeförderung ist dagegen historisch nicht belegt. Zwar wurden bei der Krönung eines Pharaos oder beim Minfest vier freigelassene Tauben als Boten ausgesandt, was man aber noch nicht als geregelte Taubenpost bezeichnen konnte. Die eigentliche Taubenpost wurde wahrscheinlich erst in römischer oder frühislamischer Zeit in Ägypten eingeführt.[1]

Plinius der Ältere berichtete erstmals ausführlich über die Verwendung der Taubenpost

Tauben als Übermittler von Nachrichten wurden bald auch in anderen Hochkulturen eingesetzt. Eine erste Beschreibung der Taubenzucht lieferte der griechische Naturforscher und Philosoph Aristoteles. Biologen nehmen an, dass die Brieftaube ursprünglich von der Felsentaube (Columba livia) abstammt.

Im antiken Griechenland erwiesen sich Tauben wegen der geografischen Beschaffenheit des Landes als ideales Mittel der Nachrichtenübermittlung, da viele wichtige Flugstrecken innerhalb der Reichweite der Tauben lagen. Athleten, die zu den Olympischen Spielen reisten, nahmen beispielsweise ihre eigenen Brieftauben mit. Im Falle eines Siegs banden die Athleten einen Teil des Zielbandes an den Fuß der Tauben, die anschließend zurück in die Heimat des Sportlers flogen und so den Einwohnern den Sieg ihres Mitbürgers signalisierten. Der römische Schriftsteller Claudius Aelianus berichtet in seiner Varia historia (9,2), dass der Grieche Taurosthenes auf diese Weise seinem Vater und seinem Heimatdorf auf der Insel Aigina die Nachricht von seinem Sieg bei den Olympischen Spielen überbrachte.

Im antiken Rom hatte die Brieftaube vor allem militärische Bedeutung. Der römische Feldherr Julius Caesar ließ Nachrichten von Unruhen im eroberten Gallien durch eigene Botentauben überbringen, um so seine Truppen schnell befehligen zu können. Der römische Senator und Schriftsteller Plinius der Ältere berichtete erstmals ausführlich in seinem naturwissenschaftlichen Werk Naturalis historia über die militärische Verwendung von Brieftauben. Er beschrieb nachträglich, wie Brutus während der Belagerung von Modena im Jahre 44 v. Chr. durch Mark Anton dank der Taubenpost weiterhin mit seinen Verbündeten wie Aulus Hirtius kommunizieren und dadurch die Stadt vier Monate lang verteidigen konnte. Schon damals wurden die Nachrichten um die Füße der Brieftauben gebunden. Vor allem im 4. Jahrhundert wurde die Taubenpost im Römischen Reich stark ausgebaut, zeitweise waren bis zu 5000 Brieftauben in Staatsbesitz.

Auch in China und Indien wurde die Brieftaube schon früh zur Nachrichtenübertragung verwendet. China baute auf der Grundlage der Taubenpost ein ganzes Postwesen auf.


Taubenpost im Mittelalter

Nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches waren die Brieftauben aus Europa wieder weitgehend verschwunden. Sie wurden durch die Kreuzritter erst im 12. und 13. Jahrhundert wieder nach Europa gebracht. Im Vorderen Orient war die Brieftaube zur Nachrichtenübertragung nach wie vor weit verbreitet, sie wurde auch während der Kreuzzüge oft verwendet. Bei dem Versuch, die Stadt Akkon einzunehmen, gelang es den Kreuzrittern im Jahr 1191, eine per Brieftaube übermittelte Nachricht abzufangen: In ihr sicherte Sultan Saladin den Einwohnern zu, in drei Tagen mit seiner Armee in der Stadt anzukommen, um sie im Kampf gegen die Kreuzritter zu unterstützen. Die Kreuzritter verfälschten allerdings die Nachricht und ließen die abgefangene Brieftaube wieder frei. Die verfälschte Nachricht ließ die Einwohner von Akkon nun im Glauben, gänzlich ohne die Unterstützung Saladins kämpfen zu müssen. Noch vor Ablauf der drei Tage war die Stadt in der Hand der Kreuzritter, da die Bewohner von Akkon kaum mehr Gegenwehr leisteten.

Die Taubenpost im Vorderen Orient war keineswegs auf militärische Nutzung beschränkt; es entstanden staatliche Taubenpostdienste und regelmäßig beflogene Taubenpostlinien. Saladin hatte eine eigene Taubenpost, die unter anderem seine Hauptstädte Kairo und Damaskus miteinander verband. Dazu ließ er eine Kette von Festungen bauen, die Nachrichten mittels Heliograph, Leuchtfeuer und Tauben weiter leiteten (ein Beispiel ist die Festung Ajlun im heutigen Nord-Jordanien in der Nähe von Irbid). Auf diese Weise konnten wichtige Nachrichten zwischen den beiden Städten innerhalb von zwölf Stunden weitergeleitet werden. Im 12. Jahrhundert errichtete auch Nur ad-DinKalif von Bagdad, eine eigene Brieftaubenpost. Auch Dschingis Khan verwendete Brieftauben zur Überbringung von Nachrichten im Reich der Mongolen.

In Europa wurde die Taubenpost vor allem in Feldzügen eingesetzt. Hier war sie nach wie vor ein wichtiges Transportmittel von Nachrichten im Krieg, das nur schwer zu ersetzen war. Vor allem im Achtzigjährigen Krieg kam es zum häufigen Einsatz der Taubenpost. Wilhelm von Oranien setzte Brieftauben beispielsweise im Jahre 1573 bei der spanischen Belagerung von Haarlem durch Frederik von Toledo sowie bei der Belagerung von Leidenim Jahre 1574 ein. Außerhalb des Militärwesens wurden Tauben nur gelegentlich von Herrschern und Regierungsstellen eingesetzt, manchmal auch als Kommunikationsmittel zwischen Burgen und Klöstern.

Brieftauben im Nachrichtenwesen

Durch die zunehmende Industrialisierung wurde es für die Wirtschaft immer wichtiger, auf dem schnellstmöglichen Weg Nachrichten zu erhalten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts griffen mehrere Geschäftsleute vor allem in London und Antwerpen auf Brieftauben zurück. Einige Bankhäuser unterhielten zu dieser Zeit sogar eigene Kurstauben. Auch Handelszeitungen, wie das Antwerpener Handelsblatt, richteten einen eigenen Brieftaubendienst ein.

Zu den berühmtesten Geschäftsleuten, die ihren Informationsdienst auf Brieftauben stützen, gehörte die Familie RothschildNathan Mayer Rothschild kannte dank seiner Brieftauben noch vor dem britischen Premierminister den Ausgang der Schlacht bei Waterloo im Jahre 1815. Er verkaufte seine Aktien und die Anleger glaubten, er sei im Besitz von Information über eine britische Niederlage, weshalb sie ihm beim Verkaufen der Aktien folgten. Nachdem die Kurse der Wertpapiere in den Keller gesunken waren, kaufte er sie heimlich wieder auf und konnte durch den Kursanstieg, als die Nachricht vom Sieg der Briten für alle eintraf, hohe Gewinne verzeichnen.

Neben einzelnen Geschäftsleuten benutzten auch manche Nachrichtendienste Brieftauben. Im Jahre 1850 gründete Paul Julius Reuter das Institut zur Beförderung telegraphischer Depeschen in Aachen. Mit 40 Brieftauben schuf er eine Nachrichten-Luftbrücke, um die Lücke in der Telegrafenverbindung zwischen Brüssel und Aachen zu schließen. Es waren überwiegend Börsenmeldungen, die von Reuters Agenten in verschiedenen Städten Europas gesammelt und in Brüssel abgeliefert wurden. Mit der wichtigen Fracht im Gefieder flogen die Tauben schneller als die Eisenbahn nach Aachen zurück. Reuters Mitarbeiter nahmen die Nachrichten auf dem Dach des Hauses in der Pontstraße 117 in Empfang und leiteten sie an die Haupthandelsplätze weiter. Bereits ein Jahr später waren alle wichtigen Verbindungen im Telegrafennetz geschlossen und Reuter gab das Aachener Büro auf. Er wanderte nach London aus und gründete dort im Oktober 1851 die Nachrichtenagentur Reuters.

Die vermehrte Verwendung von Brieftauben zu wirtschaftlichen Zwecken war von geringer Dauer, denn die Vögel wurden bald durch die ersten Telegrafenlinien in der Mitte des 19. Jahrhunderts ersetzt.




Kryptographie bzw. Kryptografie (altgriechisch κρυπτός kryptós, deutsch ‚verborgen‘, ‚geheim‘ und γράφειν gráphein, deutsch ‚schreiben‘)[1] ist ursprünglich die Wissenschaft der Verschlüsselung von Informationen. Heute befasst sie sich auch allgemein mit dem Thema Informationssicherheit, also der Konzeption, Definition und Konstruktion von Informationssystemen, die widerstandsfähig gegen Manipulation und unbefugtes Lesen sind.


Wikipedia: Flaschenpost

Eine Flaschenpost ist eine leere Flasche oder ein anderes schwimmfähiges Gefäß, das mit einem Dokument und eventuell anderen kleineren Gegenständen gefüllt wird, um – wasserdicht verschlossen – in ein Gewässer (meist einen Fluss oder einen Ozean) geworfen zu werden. Der Sender hat dabei die Hoffnung, dass die Strömung die Botschaft an einem anderen Ort an Land spült, wo sie dann von einem Finder entdeckt werden kann.

Gebrauch

Der Volksmund verbindet mit der Flaschenpost hauptsächlich Hilferufe von Schiffbrüchigen, denen keine andere Möglichkeit bleibt, Rettung zu erbitten.

Angeblich hat bereits Christoph Kolumbus auf seiner Fahrt nach Westen 1493 von einer Art Flaschenpost Gebrauch gemacht, indem er während eines schweren Sturmes ein Zedernfässchen mit Nachrichten für den Katholischen König (Ferdinand II. und dessen Ehefrau Isabella I.) den Wellen übergab. Allerdings erreichte diese Post den Empfänger nicht.[1]

In früheren Zeiten wurde die mit einem Hilfeersuchen aufgefundene Flaschenpost bei den lokalen Behörden abgegeben, die das Schriftstück an den zuständigen Konsul des Landes weiterleiteten. Auf langen Schiffsreisen wurden z. B. von Auswanderern Briefe an die Daheimgebliebenen mit Geld für Porto in einer Flasche im Meer ausgesetzt, in der Hoffnung, dass die Nachricht gefunden wird und vom Finder per Briefpost an die Adressaten weitergeleitet wird.

Von Bewohnern einsamer Inseln werden Flaschenposten auch als Verkehrsmittel benutzt. Beispielsweise ist dies auf den Westmännerinseln bekannt, die vor der Südküste Islands liegen. Wollten die Bewohner dieser Inseln Briefe an Bekannte an der Südküste Islands abschicken, so legten sie sie in eine Flasche und fügten für den Finder und Weiterbeförderer der Briefe etwas Tabak bei. Die Flasche wurde bei Südwind ins Meer geworfen, so dass sie nach Island herüber getrieben werden konnte.[1]

Wird heute eine Flaschenpost versandt, so geschieht dies meist aus Neugierde: In der Flasche befinden sich eine kurze Nachricht des Absenders sowie seine Postadresse. Ziel ist es in diesem Fall, eine kurze Nachricht von einem möglichst weit entfernten Ort zu bekommen, an dem die Flasche angespült wurde. Nicht selten geschieht es auch, dass Briefmarkensammler eine Flaschenpost mit einer Postkarte und der Erwartung losschicken, die Karte mit einer ausländischen Briefmarke zurückzubekommen.

Wissenschaftlicher Gebrauch

Als Hilfsmittel der Wissenschaft hat die Flaschenpost wesentlich zur Erforschung der Richtung und Geschwindigkeit der Meeresströmung beigetragen, erstmals 1802 zur Auskundung des Golfstromes, später bei den Untersuchungen des Fürsten Albert von Monaco, der Deutschen Seewarte in Hamburg, welche zu dem Zweck seit 1878 Vordrucke verwendete, und des amerikanischen Marinedepartements in Washington. Die Flaschen waren mit einem Flaschenfindezettel versehen, der die genaue Zeit und geographische Lage des Ortes enthielt, an dem die Flaschenpost dem Meer übergeben wurde. Der Finder wurde in mehreren Sprachen aufgefordert, seinerseits Ort und Zeit zu vermerken und dann den Zettel an das hydrographische Institut seines Landes abzuliefern. Die Wege solcher Flaschenposten wurden seit 1842 in sogenannte Flaschenkarten eingetragen, die teilweise erhebliche Weglängen und überraschende Geschwindigkeiten dokumentieren.[2] Beispielsweise legte eine im Bereich des Äquatorialstroms ausgeworfene Flasche in 154 Tagen 2700 Seemeilen, also 17 Seemeilen pro Tag zurück.[3]

Ein weiteres Beispiel ist die der deutschen Brigg Marco Polo, welche am 23. August 1873 bei 48° 11′ nördlicher Breite und 6° 56′ westlicher Länge um 8 Uhr eine Flasche aussetzte. Diese wurde am 26. Oktober 1873 um 16 Uhr bei Oudeschild auf Texel (Niederlande) aufgefunden (53° 3′ nördliche Breite, 4° 11′ östliche Länge). Täglich wurden also etwa 8,3 Seemeilen zurückgelegt.

Insbesondere in der Arktis wurde die Flaschenpost mit Erfolg verwendet, um Nachrichten von Polarexpeditionen zu übermitteln.

Als moderner Nachfolger der Flaschenpost übernahm die Treibboje die Tätigkeit, um die Richtungen der Meeresströmungen zu ermitteln. Im Jahr 2008 waren auf den Weltmeeren etwa 3000 dieser Geräte ausgesetzt.[4] siehe auch: Argo (Programm).

Zu einem unfreiwilligen wissenschaftlichen Gebrauch entwickelte sich eine Ladung Quietscheentchen, welche über Bord gegangen waren, siehe: Friendly Floatees.

Überwindung geschlossener Grenzen

Überläufer von Nordkorea nach Südkorea werfen seit mehr als 2 Jahren – Stand April 2018 – zweimal monatlich auf einer Insel Südkoreas Flaschen mit Essen, Reis, Geld, Medikamenten, politischen Informationen, USB-Sticks mit Musik ins Meer in der Hoffnung, dass sie von Nordkoreanern gefunden werden.[5]

Rekorde

Die älteste erhaltene Flaschenpost wurde am 14. Juli 1864 von Georg von Neumayer am Kap Horn ins Wasser geworfen, gefunden wurde sie am 9. Juni 1867. Heute ist sie Teil der Flaschenpostsammlung des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg. Die Sammlung umfasst 662 zurückgesandte Briefe und dürfte damit die wohl größte ihrer Art auf der Welt sein. In fünf Büchern sind die Auffindezettel chronologisch von 1864 bis 1933 zusammengefasst, wobei die Jahrgänge 1901 bis 1927 in Folge des Zweiten Weltkrieges verloren gingen.[6]

Einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde als unmöglichste Flaschenpost erhielt 1998 eine Weinflasche, die 1993 als Flaschenpost bei Hennef in die Sieg geworfen wurde und 1996 in Falmouth (Maine) gefunden wurde.

Ein Eintrag in das Guinness-Buch der Rekorde 2001 als kleinste postversandfähige Flaschenpost der Welt erfolgte für eine Flasche mit 25 mm Durchmesser und 95 mm Höhe. Präsentiert wurde sie von Rainer Krempel aus Remscheid am 16. März 2000.

Die Flaschenpost mit der bis dahin längsten nachgewiesenen Zustelldauer war ein Brief, der 1903 von einer deutschen Südpol-Expedition bei Tasmanien ausgesetzt und am 19. März 1955 in Neuseeland angespült wurde.[7]

Ende August 2012 wurde die bis dahin am längsten im Meer getriebene Flaschenpost vor den Shetland-Inseln nördlich von Schottland von einem Fischer gefunden. Forscher aus Glasgow hatten die Flasche im Juni 1914 mit fast 2000 weiteren Flaschen ins Meer geworfen. In der Flasche steckte eine Postkarte und eine Aufforderung an den Finder, die Karte an die Fischereibehörde zurückzuschicken. Dafür wurde ein kleines Belohnungsgeld versprochen. Ziel war es, eine Karte der Meeresströmungen vor Schottland zu schaffen. Das Guinness-Buch der Rekorde bestätigte, dass keine bislang bekannte Flaschenpost länger im Meer war.[8][9]

Im März 2014 wurde gemeldet, dass der Fischer Konrad Fischer aus Heikendorf in Schleswig-Holstein in der Kieler Förde die damals älteste Flaschenpost als Beifang in seinem Netz vorgefunden hat. Die Bierflasche enthielt eine Postkarte, die mit zwei Briefmarken aus dem deutschen Kaiserreich beklebt war und das Datum vom 17. Mai 1913 trug. Der Absender bittet den Finder, er möge die Karte an seine Adresse zurückschicken.[10] Sie wird heute im Internationalen Maritimen Museum Hamburg ausgestellt.[11]

Jedoch schrieb Carl Weyprecht 1874, als er die Mannschaft der Österreichisch-Ungarischen Nordpolexpedition zum Durchhalten bewegte, eine Flaschenpost, in der er die Ereignisse beschrieb, und übergab sie auch zu diesem Zeitpunkt dem Meer. Diese Flasche wurde 104 Jahre später, im Jahr 1978, von einem russischen Forscher, Wladimir Serow, auf der Insel Lamont im Franz-Josef-Land gefunden. Sie kam auf diplomatischem Weg im Jahr 1980 nach Wien und befindet sich heute im Besitz der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.[12][13]

Im April 2015 fand eine Spaziergängerin am Strand von Amrum eine Flaschenpost, die George Parker Bidder III von der MBA im britischen Plymouth am 30. November 1906 ins Meer gelassen hatte. Bidder hatte seinerzeit ungefähr 1.000 Flaschen in die Nordsee gesetzt, um in ihrem Tiefenbereich die Ost-West-Strömung beweisen zu können. Die Flaschen waren durch Bleigewichte bzw. Sandballast so getrimmt, dass sie nur knapp über dem Meeresboden trieben. Die Finderin hatte die der Flasche beigelegte Postkarte wunschgemäß an die MBA zurückgesandt und erhielt dafür den auf der Postkarte als Finderlohn versprochenen Schilling aus der damaligen Zeit. Im März 2016 wurde diese Flaschenpost, die damit 108 Jahre und 138 Tage im Meer gewesen war, von den Guinness World Records als älteste Flaschenpost der Geschichte bestätigt.[14]

Am 21. Januar 2018 wurde am Strand von Wedge Island, nördlich von Perth in Australien, eine über 131 Jahre alte Flaschenpost entdeckt. In der Flasche befand sich ein gedrucktes Formular in deutscher Sprache, adressiert an die „Seewarte in Hamburg“. Da die Handschrift darauf teilweise lesbar war, konnte das Datum auf den 12. Juni 1886 festgelegt werden. Nach Recherchen des Western Australia Museum in Perth wurde sie von Bord der deutschen Frachtbark Paula in den Indischen Ozean geworfen, um im Rahmen eines langjährigen Projekts der Seewarte, bei dem tausende Flaschen von dazu verpflichteten deutschen Schiffen ausgesetzt wurden, Meeresströmungen zu erforschen. Durch Handschriftvergleich mit dem Bordbuch wurde der Kapitän O. Diekmann[15] des Schiffs als Autor ermittelt.[16][17]

Ähnliche Verfahren

Ballonpost ist das analoge Verfahren ungerichtete Botschaften durch die Luft zu schicken. Ballonpost hat den Vorteil, dass sie von jedem Ort der Erde gestartet werden kann und prinzipiell auch jeden Ort der Erde erreichen kann. Auch ist der Start einer Ballonpost leichter durchführbar, da es in der Luft kein der Brandung vergleichbares Problem gibt.

Auch in den Weltraum wurden der Flaschenpost vergleichbare Botschaften schon geschickt. So besitzen die Raumsonden Pioneer 10 und 11 sowie Voyager 1 und 2 eine goldene Plakette bzw. die Voyager-Raumsonden eine goldene Datenplatte an Bord für den Fall, dass sie einmal von Außerirdischen gefunden werden sollten.

Mit einer Zeitkapsel werden Botschaften oder Dinge (Münzen, Chroniken, Zeitungen etc.) an einen unbekannten, zukünftigen Finder hinterlegt bzw. eingemauert.

Flaschenpost als Markenzeichen

Der Name Flaschenpost ist eine eingetragene, geschützte Marke. Die ersten Schutzrechte wurden 1990 beim deutschen Patent- und Markenamt eingetragen.[18] Weitere Marken für weitere Waren- und Dienstleistungsklassen folgten in den Jahren 1991 bis 2006.

Flaschenpost in der Kunst

Eine Flaschenpost dient oft als stilistisches Mittel, um den bislang unbeteiligten Finder in ein Abenteuer zu verstricken, oder als letztes Rettungsmittel aus hoffnungsloser, allein nicht zu bewerkstelligen Lage der Hauptperson.

Ausstellungen und Sammlungen

Der Flaschenpostautomat der Künstlerin Kirsten Kaiser stellte im Museum für Kommunikation Hamburg Flaschen, Korken, Formular und Bleistift zur Verfügung.

Der Kölner Künstler Joachim Römer sammelt seit 1998 am Kölner Rheinstrand Botschaften aus Flaschen, Gläsern, Dosen oder sogar Luftballons aus dem Rhein. Die Sammlung umfasste 2015 rund 1400 Objekte, die er für seine Installation „1000 und 1 Flaschenpost“ benutzt. Diese Wanderausstellung war unter anderem im Museum am Strom in Bingen am Rhein[19] sowie anschließend im Duisburger Museum der Deutschen Binnenschifffahrt zu sehen.[20]

Im Museum für Kommunikation Frankfurt war vom 16. Mai bis 4. September 2016 die Ausstellung „Mit dem Strom und gegen die Zeit. Treibgut Flaschenpost“ zu sehen.

Flaschenpost als Metapher

Theodor W. Adorno benutzte die Metapher „Flaschenpost“ zunächst in Bezug auf Neue Musik („keiner will mit ihr etwas zu tun haben, sie verhallt ungehört, ohne Echo“) und später im Exil auch in Hinblick auf seine eigene Theorie. Theorie als Flaschenpost bedeutet in diesem Sinne, etwas ins Ungewisse zu senden, ohne Adressaten – in der Hoffnung, dass in einer Zukunft dieser Adressat geboren wird.[21] Manchmal wird die Metapher auch im Sinne eines Vermächtnisses gebraucht, wie in Friedrich Kittlers Flaschenpost an die Zukunft von Till Nikolaus von Heiseler.

In der Literatur

Edgar Allan PoeDas Manuskript in der Flasche
Harald Beer: Die Flaschenpost
Michael EndeJim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant
Jules Verne: Die geheimnisvolle Insel
Jules Verne: 20.000 Meilen unter dem Meer
Jules Verne: Die Erfindung des Verderbens
Anton Schnack
: Die Flaschenpost (Poesie)
Hubert Schirneck: Flaschenpost für Papa (Kinderbuch)
Ralf PaulHelden (Comic)
Michael Schulte
: Die Flaschenpost des Herrn Debussy
Wilhelm Muster: Vom Nutzen der Flaschenpost oder Der Umweg über Westindien
Kirsten Boie: Linnea schickt eine Flaschenpost
Astrid LindgrenPippi in Taka-Tuka-Land (Kinderbuch)
Klaus Kordon: Die Flaschenpost
Walter Klier: Flaschenpost
Christoph Meckel: Flaschenpost für eine Sintflut
Enid BlytonFünf Freunde und die Flaschenpost
Die drei Fragezeichen: Geheime Flaschenpost (Kids-Ratekrimis)
Tove Jansson: Wer tröstet Toffel? (1960)
Jussi Adler-OlsenErlösung Flaskepost fra P. 2009
Otfried Preußler: Neues vom Räuber Hotzenplotz (vorgebliche Flaschenpost)
David Brin: Existenz
Hugo Pratt: Corto Maltese – Südseeballade (Comic)


Im Film

Fritz LangDie Spinnen
Walter Ulbrich
Zwei Jahre Ferien (1974)
Message in a Bottle – Der Beginn einer großen Liebe
Michael Herbig
Lissi und der wilde Kaiser
Star Trek: Raumschiff Voyager
: Flaschenpost
Caprona – Das vergessene Land

In der Musik

Reinhard Mey: Studioalbum Flaschenpost mit dem gleichnamigen Lied aus dem Jahr 1998
The Police: Message in a bottle
Sandra Lüpkes: Strandgut – Die geheimnisvolle Flaschenpost
Susan Schubert: Flaschenpost aus Hawaii
In Extremo: Flaschenpost

Im Theater

Sandra Lüpkes: Wiegand Wattwurm und die geheimnisvolle Flaschenpost, Kindermusical

Weitere Bedeutung

Flaschenpost ist der Name einer deutschsprachigen Zeitung der Frauen in der Binnenschifffahrt e. V.
One Person Librarians’ Flaschenpost ist eine Publikation des Berufsverbandes Information Bibliothek
Die Piratenpartei Deutschland nennt ihr Nachrichtenmagazin Flaschenpost.

Literatur

Scholl: Die Flaschenpost der Seewarte. 1898.
Archiv für Post und Telegraphie. Herausgegeben im Auftrage des Reichspostministeriums. Verlag Postzeitungsamt Berlin W.:
1901; S. 598
1911; S. 252

Handwörterbuch des Postwesens

1. Auflage; S. 236 (Aufsatz von Heinrich Herzog, Präsident der OPD Frankfurt (Oder))
2. Auflage; S. 272
Das Archiv, Heft 2/2016, ISSN 1611-0838 (Schwerpunktthema: Flaschen- und Raketenpost)
Jürgen Bräunlein: Vom Zufall in die Hand gespült – Kleine Geschichte der Flaschenposten. S. 6–9 und 11–13
Jürgen Bräunlein: Flaschenposten – Handreichung für die Praxis. S. 10
Thomas Seibert: Der Künstler als Flaneur – Die Flaschenpostsammlung Joachim Römers im Kunstkontext. S. 14–21
Julia Bastian im Gespräch mit Joachim Römer: Mit dem Strom gegen die Zeit – Eine Flaschenpostsammlung im MKF. S. 49–51
Stefan Frank: Mit der Strömung über die Meere – Die Flaschenpostsammlung des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie. S. 62–67
Margret Baumann: Post-Art-Museum – Ein Flaschenpostobjekt des Künstlers Rolf Sturm. S. 80.
Oliver Lück: Flaschenpost-Geschichten. Von Menschen, ihren Briefen und der Ostsee. Rowohlt, 2016.

Weblinks

 Commons: Flaschenpost – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie: Flaschenpost-Sammlung

WiktionaryWiktionary: Flaschenpost – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme,

Übersetzungen

Einzelnachweise

↑ Hochspringen nach:a b Handwörterbuch des Postwesens. 1. Auflage. S. 236.

 Handwörterbuch des Postwesens. 2. Auflage

 Handwörterbuch des Postwesens. 1. Auflage.

 Spiegel-online, 13. April 2008

 Korea-Gipfel: Kim und Moon bauen Lautsprecher ab orf.at, 1. Mai 2018, abgerufen 1. Mai 2018.

 BSH - Flaschenpost. Abgerufen am 20. August 2019.

 Fernweh zum Anfassen. einestages

 bild.de

 Ausgegraben - Neues aus der Archäologie. Spiegel Online, 16. September 2012; abgerufen am gleichen Tage.

 Nach geplatzter Versteigerung: Berliner Flaschenpost bleibt im Museum. In: tagesspiegel.de. Abgerufen am 3. Juni 2015.

 Flaschenpost aus Berlin bleibt im Museum. Der Tagesspiegel, 31. Juli 2014

 Carl Weyprecht-Ausstellung (Memento des Originals vom 11. August 2015 im Internet Archivei Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. abgerufen am 5. November 2011

 Weyprecht Ausstellung (Memento des Originals vom 23. September 2015 im Internet Archivei Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (PDF; 108 kB) Flyer zum 125. Jahrestag Weyprechts von 2006; abgerufen am 5. Oktober 2011

 Älteste Flaschenpost. guinnessworldrecords.de, 17. März 2016; abgerufen am 20. April 2016

 Christoph Sator: Nachricht aus Bismarcks Zeiten - Rekordfund: An einem Stand in Australien wird eine 132 Jahre alte Flaschenpost entdeckt; in Allgemeine Zeitung (Mainz) vom 7. März 2018; S. 32

 Flaschenpost nach 132 Jahren in Australien gefunden orf.at, 6. März 2018, abgerufen 6. März 2018. – Mit Video (1:07) (Englisch)

 132 year old message in a bottle found on WA beach. In: museum.wa.gov.au. Western Australian Museum, 6. März 2018.

 Registernummer: 1166165. Deutsches Patent- und Markenamt, abgerufen am 16. Juni 2012.

 Ausstellung "1000 und 1 Flaschenpost" in Bingen Poetische Schätze des Rheins von Manuela Hübner auf swr.de vom 17. April 2015

 Joachim Römer macht Flaschenpost zur Kunst … Alles im Fluss (Memento des Originals vom 22. Juni 2016 im Internet Archivei Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. von Gerd Michalek auf wdr.de vom 16. November 2015

 Kerstin Stolt, Teddys Flaschenpost, John F. Kennedy Institut für Nordamerikastudien (1997)


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The Theophrastus Message in a Bottle Myth
https://messageinabottlehunter.com/message-in-a-bottle-myths/the-theophrastus-myth/



     

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