Das gemeinsame Werk M. Horkheimer
und Th. W. Adorno "Dialektik der Aufklärung" [1] kann als
Fortsetzung der revolutionären Denktradition verstanden werden.
Der kritische Ansatz dieser Denktradition wurzelt in der modernen
Philosophie der Subjektivität (Descartes), bahnt sich aber,
besonders seit Karl Marx, einen eigenen dialektischen Weg in der
Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das
Charakteristische dieses neuen dialektisch-kritischen Denkweges
ist die Beibehaltung des kritischen Ansatzes unter gleichzeitiger
Ablehnung metaphysischer Vorstellungen bzw. unter Aneignung des
empirischen Gehaltes des Gegebenen. Die dialektische Einheit von
Metaphysikkritik und empirischem Gehalt macht das Wesen dieser
revolutionären Denktradition aus. [2]
In der "Dialektik der
Aufklärung" geht es aber nicht um die ökonomischen
Verhältnisse (Marx), sondern um das kultur-soziologische
Phänomen der Aufklärung. [3] Was ist Aufklärung? Auf
diese Frage geben die Autoren eine doppelte Antwort: "schon der Mythos
ist Aufklärung" und "Aufklärung schlägt in Mythologie
zurück." (S. 5) Damit ist einerseits der empirische Gehalt des
Begriffs Aufklärung ausgesprochen: nämlich die gesamte
kulturelle Entwicklung der Menschheit vom Beginn der Mythen bis zur
modernen Wissenschaft, andererseits wird eine Kritik an dem Begriff
Aufklärung als Rückfall in die Mythologie geübt. Dieser
in der "Vorrede" dargestellte Begriff bzw. Vorbegriff der
Aufklärung ist somit zweideutig.
Ziel unserer Untersuchung ist die
Darstellung und Kritik der Kerngedanken, die die Autoren unter dem
Titel "Begriff der Aufklärung" erörtern und die sie als
"theoretische Grundlage" (S. 5) der gesamten Abhandlung "Dialektik der
Aufklärung" zugrunde legen.
I.
Darstellung der Kerngedanken
Die folgende Darstellung der
Kerngedanken der Abhandlung "Begriff der Aufklärung" besteht aus
einem Einführungsteil und drei Gedankengängen, die die
wesentlichen Momente des Begriffs der Aufklärung ausmachen. [4]
Über den zum Teil überholten historischen Gehalt mancher
Aussagen sind sich die Autoren im Vorwort der Neuausgabe (1969)
bewußt. Sie sind aber weiterhin fest überzeugt, daß
die in dem Buch erkannte Entwicklung "unterbrochen, nicht abgebrochen"
ist (S. IX). Die Verwurzelung der philosophischen Kritik in der Empirie
bedeutet also nicht eine Ablehnung, sondern eine Aufhebung, im
Hegelschen Sinne, der Philosophie: "Als Kritik von Philosophie will sie
[sc. unsere Konzeption der Geschichte, RC] Philosophie nicht
preisgeben." (S. X)
1. Ziel und Programm der Aufklärung
Gleich zu Beginn der Abhandlung
nennen die Autoren Ziel und Programm der Aufklärung:
"Seit je
hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das
Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren
einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen
triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die
Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und
Einbildung durch Wissen stürzen." (S. 7)
Ziel der Aufklärung ist "seit
je" gewesen, den Fortschritt im Denken am Maßstab der
Verminderung von Furcht zu messen und diese Verminderung der Furcht
wiederum als Herrschaft zu begreifen. "Die vollends aufgeklärte
Erde" ist also die totale Vernichtung der Furcht bzw. die totale
Herrschaft.
2. Die Entzauberung der Welt
Obwohl die Entzauberung der Natur mit
der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik ausgesprochen
wurde, heißt das nicht, daß die vorhergehende kulturelle
Entwicklung auf einem anderen Prinzip als dem der Entzauberung der
Welt, Fuß gefaßt hätte. Der Gegensatz zwischen Mythos
und Wissenschaft ist nur ein äußerer. Für Horkheimer
und Adorno haben beide Formen der Aufklärung dieselbe Wurzel:
"Die
Verdoppelung der Natur in Schein und Wesen, Wirkung und Kraft, die den
Mythos sowohl wie die Wissenschaft erst möglich macht, stammt aus
der Angst des Menschen, deren Ausdruck zur Erklärung wird." (S. 17)
Die Wurzel, aus der Mythos und
Wissenschaft stammen, ist also die Angst des Menschen vor der Natur.
Die Überwindung dieser Angst führt zu einer metaphysischen
Verdoppelung der Natur: hinter dem Schein will man ein Wesen entdecken,
hinter der Wirkung die Kraft. Das heißt aber nicht, daß die
Autoren Mythos und Wissenschaft einfach identifizieren. Sie sind das
Selbe aber nicht das Gleiche, d.h. sie sind Gestalten eines und
desselben Prinzips, aber als Gestalten sind sie unter sich verschieden.
So entsteht ein Entzauberungsprozeß, der mit der "Ausrottung des
Animismus" (S. 8) in den vorsokratischen Kosmogonien anfängt, sich
in den ontologischen Wesenheiten Platons und Aristoteles verfestigt und
schließlich mit der Beherrschung der Materie endet. Die Autoren
stellen die These dar, daß die Mythen nicht zuerst eine
Projektion des Menschen auf die Natur sind, wie die Aufklärung es
will. Durch diese Interpretation des Mythos nahm die Aufklärung
an, daß das Subjekt der Ursprung der Mythen war. Das Subjekt bzw.
der Mensch mußte also, laut Aufklärung, von diesen
Projektionen befreit werden, um somit alles auf sich beziehen zu
können.
"Aber die
Mythen, die der Aufklärung zum Opfer fallen, waren selbst schon
deren eigenes Produkt." (S. 11)
Der Gegensatz Mythos vs.
Aufklärung ist also ein aus der Sicht der Aufklärung
aufgestellter Gegensatz. In Wirklichkeit aber sind die Mythen schon ein Produkt der
Aufklärung.
Die Parallelität zwischen Mythos
und wissenschaftlicher Aufklärung wird zum Beispiel anhand des
Gedankens der Rechenschaftsablegung, die die Wissenschaft in der Form
der Kalkulation, der Mythos im Bericht über den Ursprung
aufstellen, erörtert. Schon die Mythen stehen auch im Zeichen von
Disziplin und Macht, von denen Bacon gesprochen hat. Der Übergang
von Mythos in die Aufklärung ist also nicht eine Überwindung
einer kulturellen Etappe der Menschheit durch die Aufstellung eines
neuen Prinzips, sondern eine Vertiefung beziehungsweise eine Vollendung
des Prinzips der Entzauberung der Welt: der Zauberer macht sich
Dämonen ähnlich, das heißt, er hat die Identität
des Selbst, die der Zivilisierte hat, noch
nicht erlangt.
In der weiteren Ausarbeitung der
Unterschiede zwischen Mythos und Wissenschaft betonen Horkheimer und
Adorno den Moment des "noch nicht". [5] Mythos und Wissenschaft sind
Aufklärung, aber der aufklärerische Mythos ist nicht dasselbe
wie die aufklärerische Wissenschaft. Die Mythologie hat den
Prozeß der Aufklärung "ins Spiel gesetzt" (S. 14), der in
der philosophischen und wissenschaftlichen Aufklärung fortgesetzt
wurde:
"Wie die
Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung
mit jedem Schritte tiefer sich in Mythologie." (S. 14)
In der Spannung zwischen dem "schon"
und dem "noch nicht" sehen die Autoren keinen prinzipiellen Unterschied
zwischen Mythos und wissenschaftlicher Aufklärung. Im Gegenteil,
das Prinzip der Immanenz, das die wissenschaftliche Aufklärung bei
ihrer Entzauberung der Natur für sich beanspruchen möchte,
ist auch das Prinzip des Mythos selber. Das Prinzip der Immanenz besagt
die Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung. Es gibt nichts
Neues, daß von Außen kommt, weil alles schon drinnen ist.
Die äußerste Wirkung des Immanenzprinzips, wodurch der
Mensch jeden äußeren Zwang, insbesondere den der Natur,
brechen will, ist nichts anderes als eine tiefere Abhängigkeit von
diesem Zwang:
"Jeder Versuch, den Naturzwang zu
brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den
Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation
verlaufen." (S. 15) [6]
Die Mythen sind also keine Projektion
der Seele, sondern sie sind der Ausdruck der Erfahrung der
Übermacht der Natur als etwas dem Subjekt Entgegengesetztes. Die
Benennung der Naturkräfte mit göttlichen Namen drückt
den Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt aus. Die Sprache der Mythen
ist schon Sprache der
wissenschaftlichen Aufklärung:
"Das war
die Urform objektivierender Bestimmung, in der Begriff und Sache
auseinandertraten, derselben, die im homerischen Epos schon weit
gediehen ist und in der modernen positiven Wissenschaft sich
überschlägt." (S. 17)
Die Entzauberung der Welt, die mit
dem Mythos anfängt, indem das Objektive dort genannt wird und
somit in dialektische Beziehung zum Subjekt tritt, ist also nichts
anderes als die Verwirklichung des Immanenzprinzips, das heißt,
alles, was jenseits des Subjekts erscheint, wird auf dieses bezogen und
in das Wissen des Subjekts integriert. Dieser Prozeß der
Entmythologisierung ist also ein Prozeß der Enttabuisierung, der
in der "reinen Immanenz des Positivismus" (S. 18) endet. Diese
äußerste Form von Entzauberung ist aber gleichzeitig ein
"universales Tabu", das heißt, es ist das Tabu gegenüber
jeder Art von Äußerlichkeit:
"Es darf
überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße
Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist."
(S. 18) [7]
Wir halten aus dieser Erörterung
fest: Die Entzauberung der Welt ist eine allgemeine Eigenschaft des
zivilisatorischen Prozesses der Aufklärung. Die wissenschaftliche
Aufklärung glaubte durch ihr Wissen dem Mythos entgegengesetzt zu
sein. Stattdessen ist sie nur die Fortsetzung der mythischen und
philosophischen Aufklärung. Dasselbe Prinzip der
Entmythologisierung liegt dem Mythos, der Philosophie und der
Wissenschaft zugrunde, ohne daß sie aber dadurch die Unterschiede
ihre Erscheinungsformen verlieren würden. Mythos ist schon Aufklärung aber noch nicht Wissenschaft.
3.
Das Wissen der Aufklärung
Die Entzauberung der Welt drückt sich in der Sprache
aus. Diese ist zunächst symbolischer Natur, das heißt, Sinn
und Bild gehören in ihr zusammen. Der "Kern des Symbolischen" (S.
19) ist die ewige Vorstellung eines mythischen Vorgangs, der stets
wiederholt werden kann. Die wissenschaftliche Aufklärung
unterscheidet dabei zwischen Wissenschaft und Dichtung beziehungsweise
Zeichen und Bild. In der Philosophie drückt sich dieser Gegensatz
im Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff aus: Platon stellt
sich auf die Seite des Begriffs, Schelling auf die der Anschauung. Auch
die Gegenüberstellung von Wissen und Glauben zeigt die
Abhängigkeit des Glaubens von der Sprache des Wissens. Die Sprache
der Mythen ist also schon die
Sprache des Wissens und der Macht, die sich zur totalen
Rationalität beziehungsweise Irrationalität, zur restlosen
Aufklärung entwickelt [8]:
"Schon
wenn die Sprache in die Geschichte eintritt, sind ihre Meister Priester
und Zauberer [...] Die Symbole nehmen den Ausdruck des Fetischs an
[...] Der zum festen Bild vergegenständlichte Schauder wird zum
Zeichen der verfestigten Herrschaft von Privilegierten. Das aber
bleiben die allgemeinen Begriffe, auch wenn sie alles Bildlichen sich
entäußert haben. Noch die deduktive Form der Wissenschaft
spiegelt Hierarchie und Zwang." (S. 22-23)
Mit diesen Sätzen belegen die
Autoren die Identität der Entwicklung des menschlichen Wissens,
wenngleich sie aber auch auf die Unterschiede der verschiedenen Formen
von Wissen aufmerksam machen. Durch ihre Allgemeinheit und logische
Verkettung spiegelten die Begriffe die Organisation des Einzelnen und
die Herrschaft des Allgemeinen in der Gesellschaft wider. Die
Metaphysik hat sie hypostasiert und die wissenschaftliche
Aufklärung hat nur ihre abstrakte Macht erhalten. Der kritische
Gehalt, den die Begriffe gegenüber der Wirklichkeit in der
Metaphysik hatten, ist in der Neutralität der Wissenschaft
ohnmächtig geworden: Es bleibt nur die Macht des Bestehenden
übrig:
"In der
Unparteilichkeit der wissenschaftlichen Sprache hat das
Ohnmächtige vollends die Kraft verloren, sich Ausdruck zu
verschaffen, und bloß das Bestehende findet ihr neutrales
Zeichen. Solche Neutralität ist metaphysischer als die
Metaphysik." (S. 24)
Die abstrakte Negation jedes
Positiven, die sich zum Beispiel im Buddhismus oder in seinem Gegenteil
dem Pantheismus äußert, bestätigt nur die Macht dessen,
was sie leugnen will. Die Autoren sehen erst in der "bestimmten
Negation" (Hegel) den ersten Schritt zur Überwindung des
abstrakten Gegensatzes zwischen Sprache und Bild. Aber auch die
hegelsche Dialektik hat schließlich die Negation in der
Positivität aufgehoben:
"Mit dem
Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben,
das Aufklärung von dem positivistischen Zerfall unterscheidet, dem
er sie zurechnet. Indem er freilich das gewußte Resultat des
gesamten Prozesses der Negation: die Totalität in System und
Geschichte, schließlich doch zum Absoluten machte, verstieß
sie gegen das Verbot und verfiel selbst der Mythologie." (S. 25) [9]
An diesem Punkt, das heißt,
dort wo die Aufklärung ihre Negativität vergißt und
sich in Positivität umwandelt, wird sie totalitär. Hier zeigt
sich die Ambivalenz des
Begriffs Aufklärung. Am Scheideweg von Negativität und
Positivität, hat sie sich für die Positivität
entschieden:
"Denn
Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System. Nicht was
ihre romantische Feinde ihr seit je vorgeworfen haben, analytische
Methode, Rückgang auf Elemente, Zersetzung durch Reflexion ist
ihre Unwarheit, sondern daß für sie der Prozeß von
vornherein entscheiden ist." (S. 25)
Die Entscheidung für die
Positivität ist, für Horkheimer und Adorno, nicht nur Hegel
und der Metaphysik, sondern auch der modernen Naturwissenschaft
eigen, die Mathematik und Denken gleichsetzt, und in der mathematischen
Gleichung das Unbekannte integriert. Die praktische Begründung des
Denkens, die zum Beispiel die Philosophie Fichtes darstellt, vollzieht
sich in der totalen Unterwerfung des Denkens. Das Denken ist ein
Werkzeug geworden. Damit verliert das Wissen der Aufklärung den
Anspruch auf die Negation des Unmittelbaren. Das Ergebnis der
endgültigen Einschränkung der Vernunft in ihren Grenzen
(Kant) ist die Gleichung zwischen dem denkenden Subjekt und der Natur:
"Die
Gleichung von Geist und Welt geht am Ende auf, aber nur so, daß
ihre beiden Seiten gegeneinander gekürzt werden. In der Reduktion
des Denkens auf mathematische Apparatur ist die Sanktion der Welt als
ihres eigenen Maßes beschlossen." (S. 27)
Die Kraft und Notwendigkeit des
wissenschaftlichen Urteils ist ursprünglich mit der
Wiederholbarkeit der kosmologischen Mythen verwandt: "damit
schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der sie nie
zu entrinnen wußte" (S. 27). Der Unterschied liegt in der
Profanität der wissenschaftlichen Aufklärung. Der
Industrialismus ist somit nur die Umkehrung des Animismus: Anstatt
einer Beseelung der Welt findet eine Vergegenständlichung der
Seele statt. Anstatt der Angst vor der Natur, wächst die Angst vor
dem Menschen.
Wir fassen die
Ausführungen über den zweiten Kerngedanken zusammen.
Die Entzauberung der Welt, die sich die mythische, philosophische und
wissenschaftliche Aufklärung vorgenommen hat, drückt sich in
der Sprache aus. Der Ausdruck der entzauberten Welt ist das Wissen, das
Macht über die Natur und somit Beherrschung der Angst, bedeutet.
Das mythische Wissen ist durch das Symbolische charakterisiert. Die
philosophische und wissenschaftliche Aufklärung scheidet was das
Symbol vereinigte: Sinn und Bild. Diese Scheidung bewirkt zunächst
eine Hypostasierung der Begriffe. Die Metaphysik, die noch die negative
Kraft der Begriffe gegenüber der Wirklichkeit erkannte,
mündet schließlich in der absoluten Positivität der
modernen Wissenschaft, die die Begriffe lediglich als Werkzeug für
die Herrschaft über die Natur begreift. Das Denken paßt sich
völlig der Natur an und wird somit von dieser beherrscht. Das
vergegenständlichte Denken ist nur die Umkehrung des Mythos. Die
Angst vor der Natur, die das Symbol zu beherrschen versuchte, kehrt
sich in die Angst vor dem mit der Natur gleichgesetzten Denken um. Der
Kampf um die Entzauberung der Natur durch das Wissen gründet auf
einem Prinzip: dem Prinzip des Selbst als Herrschaftsprinzip.
4. Das Prinzip des Selbst
als Herrschaftsprinzip
Das Selbst, das in den Mythen noch
eine natürliche Gestalt hatte, wurde zum transzendentalen Subjekt
(Kant) sublimiert. Der Versuch sich dieses Prinzips zu entziehen, zum
Beispiel in der Religion, wurde von der fortschreitenden
Aufklärung als Rückfall in die Vorgeschichte verurteilt. Das
Prinzip des selbst bedeutet das Primat der Selbsterhaltung als Endzweck
menschlichen Denkens und Handelns. Es ist die Grundlage der
bürgerlichen Wirtschaft und ihrer Arbeitsteilung. Durch die
Selbsterhaltung in der Arbeit werden die Menschen am Maßstab
dessen was sie verarbeiten geformt: Das Subjekt wird zum Werkzeug der
technischen Apparatur. Die reine Erhaltung des Selbst führt zu
seiner Auflösung:
"Das von Zivilisation
vollends erfaßte Selbst löst sich auf in ein Element jener
Unmenschlichkeit, der Zivilisation von Anbeginn zu entrinnen trachtete.
Die älteste Angst geht in Erfüllung, die vor dem Verlust des
eigenen Namens. Mimetische, mythische, metaphysische Verhaltensweisen
galten nacheinander als überwundene Weltalter, auf die
hinabzusinken mit dem Schrecken behaftet war, daß das Selbst in
jene bloße Natur zurückverwandelt werde, der er sich mit
unsäglicher Anstrengung entfremdet hatte, und die ihm eben darum
unsägliches Grauen einflößte." (S. 31)
Die Alternative, die der
Aufklärung von Anfang an, das heißt also schon im Mythos,
gestellt wurde, war die der Herrschaft oder Knechtschaft:
"Das Wesen der
Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der
Herrschaft ist. Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer
Unterwerfung unter die Natur oder der Natur unter das Selbst." (S. 32)
Horkheimer und Adorno zeigen am
Beispiel des zwölften Gesangs der Odyssee die Entzweiung und
gegensätzliche Abhängigkeit von Herrschaft (Odysseus) und
Arbeit (die Ruderer) [10]. An dieser Stelle erwähnen sie die von
Hegel in der "Phänomenologie des Geistes" beschriebene Dialektik
von Herrschaft und Knechtschaft. Der Prozeß, der hier beschrieben
wird, ist aber nicht der der Selbstwerdung des Geistes, sondern der des
Fortschrittes der Macht, der Denken und Erfahrung zu ihrer totalen
Verarmung führt:
"Die
Vereinheitlichung der intellektuellen Funktion, kraft welcher die
Herrschaft über die Sinne sich vollzieht, die Resignation des
Denkens zur Herstellung von Einstimmigkeit, bedeutet Verarmung des
Denkens so gut wie der Erfahrung; die Trennung beider Bereiche
läßt beide als beschädigte zurück." (S. 35)
Die Verarmung des Selbst
äußert sich in der modernen Gesellschaft zum Beispiel in der
zwanglosen Isolierung und in der Gleichmachung des Selbst im Kollektiv.
Es ist gerade das "wogegen sich das Entwicklungsgesetz der
Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte" (S. 36). In diesem
Prozeß, der mit der Mythologie anfängt und in der modernen
Logistik kulminiert, verliert das Denken, das, was sein Wesen ausmacht,
nämlich die Reflexion. Somit steigert sich die Irrationalität
der Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten: Auf der einen
Seite gerät die Führung in totale Willkür, auf der
anderen Seite wird diese Willkür als geschichtliche Notwendigkeit
erkannt. Horkheimer und Adorno haben mit diesen Äußerungen
besonders die geschichtliche Gestalt des Nazismus vor Augen.
Zum Schluß der Abhandlung
fassen sie das Ergebnis dieser Preisgabe des Denkens
folgendermaßen zusammen:
"Mit der Preisgabe des
Denkens, das in seiner verdinglichten Gestalt als Mathematik, Maschine,
Organisation an den seiner vergessenden Menschen sich rächt, hat
Aufklärung ihrer eigenen Verwirklichung entsagt." (S. 40)
Das Ergebnis des alles Begreifen- und
Beherrschenwollens ist die Herrschaft des unbegriffenen Ganzen
über den Menschen. [11]
Mit der These, daß
umwälzende wahre Praxis von der Unnachgiebigkeit der Theorie
gegenüber der Bewußtlosigkeit abhängt, deuten
Horkheimer und Adorno auf ein neues Verständnis des in den
bisherigen Formen der Aufklärung verwirklichten Denkens hin.
Dieses neue Denken soll durch "revolutionäre Phantasie" und
"Utopismus" das Gegebene kritisieren, und "das falsche Absolute, das
Prinzip der blinden Herrschaft" (S. 41) aufheben.
Wir halten fest: Das Prinzip auf dem
die Entzauberung der Welt und das Wissen der Aufklärung
gründen, ist das Prínzip des Selbst als Herrschaftsprinzip.
Diese Auffassung des Prinzip des Selbst führt zu einer
unausweichlichen Alternative der totalen Herrschaft des Selbst und
somit zu einer (dialektischen) Abhängigkeit vom Beherrschten.
Dabei verliert das Selbst das Moment der Reflexion: Das Ganze, in
seiner Unbegreiflichkeit, herrscht über das Selbst. Nur die Kritik
des Selbst als Herrschaftsprinzip, kann das falsche Absolute
beziehungsweise die in totaler Herrschaft vollendeter Aufklärung
aufheben.
II.
Kritische Bemerkungen
Jürgen Habermas findet in
Adornos letztem philosophischen Werk, der "Negativen Dialektik", einen
Satz, der den Zentralgedanken der "Dialektik der Aufklärung"
wiedergibt:
"Daß Vernunft ein
anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer
immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte [...] Je hemmungsloser
jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der
Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr
regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als
deren Reflexion wäre sie Übernatur." [12]
Mit diesem Gedanken ist die
Ambivalenz der Dialektik der Aufklärung ausgesprochen. Die
Herausarbeitung dieser Ambivalenz ist das besondere Verdienst von
Horkheimer und Adorno. [13] Sie verlangen die Aufhebung der
undialektischen Identität von Natur und Vernunft. Sie stellen das
Prinzip des Selbst als
Herrschaftsprinzip in Frage, um somit das Selbst von seiner
Verdinglichung und Instrumentalität zu befreien. Die Frage ist
aber, inwieweit das Prinzip des
Selbst selbst als Grundlage der herrschaftsfreien
Aufklärung unkritisiert bleibt und, ferner, inwieweit jede Kritik als Kritik von diesem Prinzip
abhängig bleibt.
Damit ist nicht die Überwindung
der Kritik durch einen Rückfall in die kritiklose Aufklärung
gemeint, sondern das 'dia-logische' Verhältnis des
Sich-selbst-in-Frage-stellen-lassens als Grundlage einer
herrschaftsfreien Gesellschaft. 'Dia-logisch' bedeutet hier die
Offenheit zur 'Differenz' ('dia'),
die sich in der Sprache ('logos')
ereignet. Die 'Differenz' bleibt für Horkheimer und Adorno als
dialektischer Gegensatz zur 'Identität'. Die Überwindung der
Identität mit den Mitteln der Dialektik bleibt somit selbst
ambivalent. Erst eine Philosophie beziehungsweise ein Denken, das die
Subjektivität als Grund
der Dialektik in Frage stellt, kann m.E. diese von Grund auf befreien.
[14]
Aufklärung: Bildung oder
Verbildung der Menschheit? Die Ambivalenz des Begriffs Aufklärung,
die Horkheimer und Adorno darstellen, ist die Ambivalenz der
Subjektivität selbst. Die Utopie als Negation der Identität
bleibt eine Utopie des Subjekts, solange das Wesen des Menschen mit den
Kategorien Subjekt-Objekt gedeutet wird. Der Denkweg einer "Dialogik
der Bildung" (Ballauff) muß allerdings gegenüber der
Vermittlung der "dialektisch-reflexiven Bildungstheorie" (Derbolav)
offen bleiben.[15]
Anmerkungen
[1] Wir zitieren die "Dialektik der Aufklärung" nach der Ausgabe
vom Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1975. Wenn nichts
anderes vermerkt, beziehen sich die im Text zitierten Stellen auf
dieses Werk.
[2] Metaphysikkritik ist eine
gemeinsame Charakteristik so verschiedener zeitgenössischer
Denkansätze wie zum Beispiel des Kritischen Rationalismus
(Popper), der
analytischen Philosophie (Wittgenstein) und der Hermeneutik (Heidegger).
[3] Vgl. F. Grenz: Adornos
Philosophie in Grundbegriffen (Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1975) S. 20:
"Das Werk ist darin eine Ergänzung der Marxistischen Analyse der
Geschichte der ökonomischen Basis der Gesellschaftsgeschichte,
daß es den gleichen Vorgang unter dem Gesichtspunkt der Kultur
behandelt."
[4] Unsere Aufteilung folgt der Darstellung der Abhandlung, die in drei
Teile, allerdings ohne Untertitel, gegliedert ist.
[5] Sie kritisieren dabei zum
Beispiel die Auffassung Freuds in "Totem und Tabu" als
"anachronistisch" (S. 14) der Zauberei die Zuversicht in die
Möglichkeit der Weltbeherrschung zuschreibt.
[6] Vgl. F. Grenz, a.a.O S. 21: "Dieser Satz bietet eine
Quintessenz des in der "Dialektik der Aufklärung" Gedachten.
"Zivilisation" steht polemisch gegen das Wort "Kultur", das ausgespart
ist, weil das, was an deren Stelle faktisch in Europa entstand, den
Namen der Kultur nicht verdiene."
[7] Später (S. 25 ff) erwähnen Horkheimer und Adorno die
Gegenposition, das heißt, die abstrakte Negation jeder Art von
"Innerlichkeit, zum Beispiel im Buddhismus. Erst die "bestimmte
Negation" (Hegel) rettet das Recht des Bildes "in der treuen
Durchführung seines Verbots." (S. 25)
[8] Vgl. H.G. Gadamer: Wahrheit und Methode (Tübingen 1975), S.
258: "Alles mythische Bewußtsein ist immer schon Wissen, und
indem es von göttlichen Mächten weiß, ist über ein
bloßes Zittern vor der Macht (wenn man schon ein solches für
ein Urstadium halten soll), aber auch über ein in magische Rituale
gebanntes Kollektivleben (wie wir es etwa im frühen Orient
antreffen) hinaus. Es weiß von sich, und in diesem Wissen ist es
schon nicht mehr schlechthin außer sich [...]"
[9] Vgl. H. Schweppenhäuser:
Spekulative und negative Dialektik. In: Aktualität und Folgen der
Philosophie Hegels (Hrsg. O. Negt, Suhrkamp 1970) S. 81: "Paradox
kritisiert Adorno an Hegel die Verfestigung der Dialektik durch die
Spekulation. Paradox: weil diese darin, das Verfestigte
verflüssigt zu haben, ihre Kraft wußte."
Schweppenhäuser sieht in der Dialektik Adornos (bes. in seinem
letzten philosophischen Werk "Negative Dialektik) ein Hinausgegen
über Hegel, indem Adorno die Endlichkeit und somit die Negation
"die noch das Absolute zu bewahren vermöchte" (S. 93) von der
Negation des Endlichen im Absoluten rettet. An diesem Punkt entsteht
eine interessante Parallele zwischen Adorno und Heidegger.
[10] Vgl. H.G. Gadamer, a.a.O.:
"Horkheimer und Adorno scheinen mir mit ihrer Analyse der
"Dialektik der Aufklärung" durchaus recht zu haben (wenn ich auch
in der Anwendung soziologischer Begriffe wie "bürgerlich" auf
Odysseus einen Mangel an historischer Reflexion, wenn nicht eine
Verwechselung Homers mit Johann Heinrich Voss sehen muß. Wie sie
schon Goethe kritisiert hat)."
[11] In diesem Sinne sollte m.E. der
Satz "Das Ganze ist das Unwahre" (Th. W. Adorno: Minima Moralia,
Frankfurt am Main 1970, S. 57) verstanden werden. Nicht also im
Gegensatz, sondern im Anschluß an Hegels "Das Wahre ist das
Ganze". Vgl. F. Grenz, a.a.O. S. 133: "Hegel hat richtig gesehen,
daß das Ganze – das nunmehr materialistisch als
Bereich der gesellschaftlichen Praxis verstehbar geworden ist –
die Wahrheit der Realität ist. In der Tat ist das
Wahre das Ganze. Aber das Ganze selber ist das Unwahre. Adorno
fügt seinen Satz dem Hegelschen hinzu, er setzt ihm nicht
entgegen. Die Entgegensetzung findet auf einer anderen Stufe statt,
dort, wo Hegel die Totalität als geschichtlich erreichte absolute
Positivität ausgibt."
[12] Vgl. Jürgen Habermas:
Urgeschichte der Subjektivität und verwilderte Selbstbehauptung.
In: J. Habermas: Philosophisch-politische Profile (Frankfurt am Main
1971) S. 185-186: "Auf dieses Verhältnis von Autonomie und
Naturbeherrschung pocht das triumphierende Selbstbewußtsein der
Aufklärung. Deren undialektische Selbstgewißheit stellt
Adorno in Frage."
[13] Vgl. F. Nicolin: Zwischen
Berufsqualifikation und Humanität (Broschüre, Düsseldorf
1974): "Schon in den zurückliegenden Jahrzehnten haben kultur- und
gesellschaftskritische Denker ganz unterschiedlicher Standorte die
Ambivalenz unserer Situation aufgedeckt: [...] Max Horkheimer und Th.
W. Adorno (sprachen) von der Dialektik der aufklärenden Vernunft,
die als Instrument der Rationalisierung schließlich den Menschen
selbst zum Gegenstand des Kalküls und der Berechnung macht. Diese
Struktur unserer Daseinsordnung ist von höchstem Belang für
unser Bildungskonzept."
[14] Das Denken M. Heideggers ist der
Versuch einen Weg zu finden, um die Philosophie der Subjektivität
aus einem geschichtlichen Verständnis des Menschen als "Da-sein",
das heißt als Offenheit zum Sein, die jene Subjekt-Objekt
Beziehung und somit jeder Kritik erst ermöglicht, zu
"überwinden".
[15] Vgl. Stichwort "Bildung" im:
Handbuch pädagogischer Grundbegriffe. Hrsg. J. Speck und G. Wehle
(München 1970) S. 163-165.
Literaturverzeichnis
Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W.: Dialektik
der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer 1975.
Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge
einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr 1975.
Grenz, Friedemann: Adornos Philosophie in Grundbegriffen.
Auflösung einiger Deutungsprobleme. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1975.
Habermas, Jürgen: Urgeschichte der Subjektivität und
verwilderte Selbstbehauptung. In: ders.: Philosophisch-politische
Profile. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 184-199.
Nicolin, Friedhelm: Zwischen Berufsqualifikation und Humanität.
Kritische Reflexionen zum Stichwort "Bildung". Broschüre.
Düsseldorf: Klens Verlag 1974.
Schweppenhäuser, Hermann: Spekulative und
negative Dialektik. In: Negt Hrsg.: Aktualität und Folgen der
Philosophie Hegels. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1970, S. 81-93.
Speck, Joseph und Wehle Josef (Hrsg.): Handbuch pädagogischer
Grundbegriffe. München: Kösel 1970. Stichwort "Bildung" (C.
Menze)